Ich muss wohl scharf geklungen haben. Julians Miene blieb ein, zwei Atemzüge lang unbewegt. Dann schlug sie wieder um.
Er lächelte, es war kaum zu glauben. Einen Moment lang sah er um Jahre jünger aus. »Adam, Adam … es hätte mich mehr verletzt, wenn du dich verbeugt hättest. Du hast Recht, und es tut mir leid, dass ich es erwähnt habe.«
»Schwamm drüber, für diesmal.«
»Ich bin müde und das Streiten leid.«
»Dann solltest du schlafen gehen.«
»Nein — das funktioniert nicht. Ich kann schon seit Tagen nicht mehr schlafen. Aber wir könnten wenigstens aufhören, über Colorado Springs zu reden. Willst du mal etwas Ungewöhnliches sehen, Adam? Etwas aus den Tagen der Säkularen Alten?«
»Du machst mich neugierig.«
Was mich in letzter Zeit an Julian stutzig gemacht hatte, war das häufige und abrupte Umschlagen seiner Stimmung — ein jähes Hin und Her wie bei Elritzen im Fischteich. Das hatte sich zuerst bei der Arbeit an The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin gezeigt. Er konnte unangekündigt am Set erscheinen und sich wie ein orientalischer Tyrann gebärden, kleinliche Änderungen am Bühnenbild verlangen oder Schauspieler schikanieren … Dann verließ ihn die Willkür so rasch wie ein Wolkenschatten, der eine Lichtung überquert, und Julian lächelte verlegen und war gleich wieder mit Entschuldigungen und Lob bei der Hand. »Manchmal setzt Euer Gnaden die Krone auf«, hatte Magnus Stepney einmal gesagt, »und manchmal setzt er das verdammte Ding wieder ab.«
Ich wünschte, er würde die Krone überhaupt nicht mehr tragen; weil sie ihn quälte und despotisch machte und seinen Geist verwirrte.
Er trat von seinem Podest herunter und legte mir den Arm um die Schulter. »Ein frischer Fund aus dem Dominion-Archiv. Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dort wären uralte Kinofilme versteckt?«
»Ja — aber welche, die wir nicht abspielen können.«
»Und ich wollte Techniker darauf ansetzen. Siehst du, und wir sind inzwischen ein Stück vorangekommen. Begleite mich nach unten, Adam, und ich zeige dir einen Film, der zweihundert Jahre auf uns gewartet hat.«
Es stellte sich heraus, dass Julian im unterirdischen Teil des Palastes ein Studio eingerichtet hatte, in dem man sich nicht nur mit antiken Filmen, sondern auch mit Darwin befasste. Normalerweise mied ich das Tiefgeschoss — da unten fror man selbst bei warmem Wetter, und ich hatte von den Gefängniszellen und Verhörräumen gehört. Das Studio war allerdings ganz modern eingerichtet und leidlich warm. Hier gab es ungewöhnliche Apparate und rätselhafte chemische Bäder und eine makellos weiße Leinwand auf der einen Seite und einen großen komplizierten Filmprojektor auf der anderen.
»Die meisten Filme, die wir gefunden haben, waren verwahrlost und hoffnungslos zerfressen«, sagte Julian. »Selbst die besten waren nur noch teilweise zu retten, aber was wir retten konnten, ist ein einzigartiger Schatz«, und ich hörte in seiner Stimme das Echo eines Julian Comstock, der mit der gleichen verzückten Faszination auf der Halde bei Williams Ford ein Buch nach dem anderen in die Hand genommen hatte. »In der letzten Zeit bin ich nachts viel hier unten, wenn es still und leise ist, und sehe mir diese Fragmente an. Hier«, sagte er und nahm eine tortengroße Blechdose auf, »dieser Film heißt On the Beach und stammt aus dem 20. Jahrhundert [111] deutscher Titel: Das Letzte Ufer (Anm. d. Übers.)
— eine halbe Stunde davon. Das Original war natürlich länger und besaß aufgezeichneten Ton und solche Raffinessen.«
Ich nahm mir einen Stuhl, während er den alten Film, den seine Leute auf modernes Zelluloid kopiert hatten, in den Projektor fädelte. Es war schon nach Mitternacht, und Calyxa würde zu Hause auf mich warten, doch ich spürte, dass Julian hier und jetzt meine Gesellschaft brauchte; ich hatte Angst, er könne sonst in eine tiefere Depression fallen oder noch einen Krieg vom Zaun brechen. »Wovon handelt er?«
Der Projektor, angetrieben von den schlaflosen Palastgeneratoren, erwachte summend und rasselnd zum Leben. »Von Schiffen und anderen Dingen. Du wirst schon sehen.« Julian stellte die Beleuchtung dunkler.
Ich gebe zu, dass ich das meiste, was sich auf der Leinwand abspielte, nicht verstand. Grelle Lücken und Löcher trugen das Ihre dazu bei. Viele Szenen waren wie ausgebleicht, beinah gespenstisch. Unsere Unfähigkeit, aufgezeichneten Ton wiederzugeben, beeinträchtigte die Verständlichkeit des Films, der zum großen Teil Leute zeigte, die sich unterhielten. Trotzdem gab es viele verblüffende und ungewöhnliche Dinge zu sehen.
Da war zum Beispiel ein Unterwasserschiff; nach Julian nannte man es »Unterseeboot« oder »U-Boot«. Das Innere sah wie der Maschinenraum eines modernen Dampfers aus, nur komplizierter, mit zahllosen Uhren, Hebeln, Rohren, Knöpfen und blinkenden Lichtern; und die Schiffsbesatzung trug Uniformen, die dauernd blitzsauber und frisch gestärkt waren.
Aber nur ein paar Szenen spielten auf See. Manche spielten in einer Stadt der Säkularen Alten. Auf den Straßen fuhren Automobile, zumindest anfangs, aber nicht so viele, wie man hätte denken können, und danach überhaupt keine mehr. Die Leute in der Stadt benahmen sich, als ob sie sehr reich und exzentrisch wären, aber exzentrischer als reich.
Es gab auch, wie der Titel versprach, eine Strandszene, in der Männer und Frauen in einer Bekleidung miteinander verkehrten, die so knapp gehalten war, dass sie fast splitternackt waren. Ein kurzer Blick, dachte ich bei mir, hätte Diakon Hollingshead in all seinen Vorurteilen über unsere Vorfahren bestätigt.
Unerklärliches passierte. Es gab Opfer bei einem Automobilrennen. Die Stadt wurde evakuiert, und eine Zeitung wehte eine leere Straße hinunter. [112] Ich fragte Julian, ob es hier um die Falsche Drangsal gehe, doch Julian verneinte; On the Beach war nahezu hundert Jahre vor dem Ende des Öls entstanden. Die Ereignisse, die der Film zeigte, mussten ihrem Wesen nach örtlich begrenzt gewesen sein — oder ausgedacht.
Julian folgte dem bruchstückhaften Film mit großer Aufmerksamkeit, dabei hatte er ihn schon viele Male gesehen; ich fand den Film sehr traurig und elegisch und fragte mich, ob das wiederholte Betrachten nicht noch mehr auf Julians Stimmung gedrückt hatte.
Der Film hörte unvermittelt auf. Julian schüttelte den Kopf wie jemand, der aus einer Trance erwacht, hielt den Projektor an und drehte die Beleuchtung auf. »Na?«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Julian. Ich hätte mir mehr Szenen von dem Unterwasserschiff gewünscht. Der Film ist gut, glaube ich. Aber warum sehen die Menschen so unglücklich aus? Dabei leben sie in einer Welt mit lauter Automobilen und Unterseebooten.«
»Es ist ein dramatischer Film — in einem Drama sind die Menschen selten glücklich.«
»Es gab keine Hochzeit am Ende, nichts Erbauliches.«
»Weiß man es? Den ganzen Film kennen wir ja nicht.«
»Das ist bestimmt ein seltener Einblick in das Leben der Säkularen Alten. So schlimm, wie das Dominion behauptet, scheinen sie jedenfalls nicht zu sein. Vollkommen waren sie aber auch nicht.«
»Ich bestreite nicht, dass sie unvollkommen waren«, sagte Julian geistesabwesend. »Ich sehe die Säkularen Alten durchaus kritisch, Adam. Es gab kein Laster, das sie nicht kannten, und sie begingen eine Sünde, die ich ihnen beim besten Willen nicht verzeihen kann.«
»Welche Sünde meinst du?«
»Uns hervorzubringen«, sagte er.
Es war wirklich an der Zeit, nach Hause zu gehen. Nicht mehr viele Stunden, und die Sonne würde aufgehen. Ich riet Julian, sich wenigstens hinzulegen — vielleicht komme ja ein ausgeruhter Geist mit der Präsidentschaft besser zurecht.
»Einverstanden«, sagte er wenig überzeugend. »Aber bevor du gehst, Adam, möchte ich dich um einen Gefallen bitten.«
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