Fünfte These: Es wurde schon darauf hingewiesen, dass als erstes Symptom der Neurotisierung im Kind Hassgefühle gegen die Eltern entstehen. Dafür kann das Kind gar nichts, es kommt schuldlos in diese Situation (oft sind auch die Eltern schuldlos, weil sie selbst in ihrer Kindheit neurotisiert worden sind und nur in einer verhängnisvollen Stafette diese Neurotisierung weitergeben). Aber da sich Hassgefühle in ihm regen und weil diese Hassgefühle mit seinem Gewissen nicht vereinbar sind, fühlt es sich schuldig. Ist unschuldig und fühlt sich schuldig – man kann gar nicht genug Zeit aufwenden, um sich in diesen tragischen Tatbestand einzufühlen und zu begreifen, was es bedeutet! Dieses Schuldgefühl nun erzeugt ein unersättliches Bedürfnis – dieser in dem Zusammenhang ausgezeichnete Ausdruck stammt von Karl Stern – nach Sühne und Strafe! So wird der Neurotiker zu seinem eigenen Feind, er verfolgt sich selbst mehr, als jeder Außenstehende es könnte. Der österreichische Dichter Lenau sagt: „Mich regiert eine Art Gravitation nach dem Unglück.“ Die Patienten drücken es so aus: „Glück ist für mich ein Fremdwort“; „Ich bin ein totaler Versager“; „Das Schicksal hat mich in den Abfallkorb des Lebens geworfen“; „Mein Leben ist auf Sparflamme gestellt“; „Ich inszeniere alles vortrefflich, aber ich inszeniere es so, dass es nicht gelingen kann“; „Alle meine Enttäuschungen sind in Erfüllung gegangen“.
Diese Feindschaft auch gegen die eigene Person ist in Österreich, ich möchte sagen, allgegenwärtig, ein Beweis für die weite Verbreitung der Neurose. Viel zu viele Menschen hier werden beherrscht von Lebensverunstaltung, Selbstschädigung, Selbstzerstörung, Selbstvernichtung. Nicht zufällig stammt das Wort „Die wichtigste Aufgabe ist es, den Menschen vor sich selber zu beschützen“ von einem Österreicher, von Franz Theodor Csokor.
Es ist ganz unmöglich, hier alle Formen der Selbstschädigung, die der Österreicher ersonnen hat, aufzuzählen, nur ein paar ausgewählte Beispiele kann ich bringen. Fangen wir mit etwas Harmlosem, mit unserer Fußballmannschaft an: Sie gewinnt fast immer, nur wenn man ihr sagt, heute gehe es um alles – dann verliert sie garantiert. Sie kann den Druck, der dabei vom (Vater) Staat ausgeht, nicht aushalten, dabei entsteht, in Erinnerung an die Eltern in der Kindheit, unbewusster Protest: „Jetzt erst recht nicht.“ Treffen doch auch viele Kinder ihre Eltern in unbewusstem Protest durch nicht bestandene Prüfungen und missglücktes Leben, nach der Devise: „Recht geschieht meinem Vater, wenn ich mir die Finger erfriere“, und übersehen dabei beharrlich, dass ja sie selbst es sind, die die Rechnung vorwiegend bezahlen!
In diesem Lande blüht die Kriminalität und Verbrechen ist oft nicht nur Aggression gegen andere (die ja begreiflicherweise immer bemerkt wird), sondern auch gegen die eigene Person (was gerne übersehen wird). Zerstört der Täter in der Mehrzahl der Fälle nicht auch sein Leben, seine sozialen Chancen, ist es ein „Vergnügen“, für Jahre Gefangener zu sein? Auch die Zahl von Verkehrsunfällen und Verkehrstoten ist in unserem Lande überdurchschnittlich hoch. Hier ist der Entgegenkommende oft nicht ein Entgegenkommender in der anderen Bedeutung des Wortes. Vielmehr huldigt er einem Fahrstil, den man mit Stengel als ein Gottesurteil über Leben und Tod bezeichnen könnte: „Geht’s gut, soll es mir recht sein, geht’s schlecht, ist es auch gut.“ Und sehr oft werden natürlich auch andere, Unschuldige, zu Opfern dieser besonderen Form der Selbstzerstörung.
Das nächste Beispiel sind die psychosomatischen Erkrankungen, die in Österreich wie kaum in einem anderen Land grassieren. Dass sie durch Internalisierung chronischer Konflikte entstehen, habe ich bereits erwähnt. Es erübrigt sich, die umfangreiche Literatur über dieses Gebiet zu studieren, man muss nur eines verstehen: Unbewältigte Gefühle schädigen den Körper; was kränkt, macht krankt, wie es der Wiener Internist Max Herz so treffend ausgedrückt hat. Wir aber haben nirgendwo gelernt, nicht im Elternhaus, nicht in der Schule und auch später nicht im Berufsleben, mit unseren Gefühlen zurechtzukommen, wir sind damit allein gelassen worden, haben keine Solidarität, keine Hilfe erfahren, sind, um es mit Ingmar Bergman zu sagen, Analphabeten des Gefühls geblieben. Für dieses Heer von psychosomatisch Kranken gibt es in Wien ganze 16 Betten. „Was brauch ma denn des alles, net, is eh gnua da“, hätte Weinheber vielleicht auch darauf gedichtet. Wie dem auch sei, jedenfalls ist es ein gutes Beispiel für das Missverhältnis, welches hier zwischen Selbstzerstörung und dem, was wir dagegen tun, herrscht. Überflüssig daran zu erinnern, dass immer mehr psychosomatische Erkrankungen tödlich enden, die Selbstzerstörung also zur Selbstvernichtung wird. Zu diesem Bild passt es, dass wir mit Todesfällen durch Leberzirrhose an der zweiten Stelle der Welt stehen; dass die Leberzirrhose eine Folge des Alkoholismus ist, weiß heute jedes Kind. Wir greifen eben zu jedem Fluchtmittel, um über Probleme und Gefühle hinwegzukommen, für die wir keine Lösung wissen. „Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ – und dann den Tod. In diesem Lande besteht fast eine Verpflichtung zu trinken, wir nennen das ein „alkoholisches Klima“. Und auch der Ausdruck „Selbstmord mit Messer und Gabel“ könnte angesichts der herrschenden Essgewohnheiten und der daraus resultierenden Übergewichtigkeit hier erfunden worden sein (vielleicht ist er es sogar, ich weiß es nicht). Und dass wir, was den direkten Selbstmord betrifft, seit Jahrzehnten im Spitzenfeld der Welt liegen, das ist bekannt. Thomas Bernhard hat geschrieben: „Ich wundere mich hier überhaupt nicht, wenn einer durch Selbstmord stirbt, ich wundere mich nur, wenn einer nicht durch Selbstmord stirbt.“ – Natürlich klingt dies wie eine maßlose Übertreibung, aber irgendetwas Wahres ist dennoch darin. Da ich schon früher auf wesentliche Faktoren hingewiesen habe, die bei uns den Selbstmord konsequent fördern („Wenn einer laut um Hilfe schreit, außer sich, ist er zu leise für mich“, sagt Georg Kreisler), kann ich mich nun auf diese Feststellung beschränken. Jedenfalls: Es war wiederum kein Zufall, dass Freud gerade hier seine viel bekämpfte, aber zweifellos richtige Entdeckung der Existenz eines „Todestriebes“ gemacht hat.
In diesem Österreich hat es eine Gestalt gegeben (das Wort Person vermeide ich absichtlich), in der die ganze Selbstbeschädigungs- und Vernichtungstendenz dieses Landes in einer einmaligen Weise komprimiert in Erscheinung getreten ist. Der Mann wurde schon in der Kindheit durch seine Mutter und die Erziehung vernichtet, hat dann 68 Jahre regiert, hat in dieser überlangen Zeit keine einzige konstruktive Idee gehabt, keine einzige! (Wer mir eine nennen kann, ist schon prämiert.) Mit der zwangsneurotischen Pedanterie einer Maschine ist er am Schreibtisch gesessen, hat Akten studiert und unterschrieben, als personifiziertes Pflichtgefühl (wo blieben die anderen Gefühle?). Auf seinem Schreibtisch stand ein Spruch: „In jedem Ding der Welt, ob es tot ist oder atmet, lebt der große weise Wille des allmächtigen und allwissenden Schöpfers. Wie alles ist, so muß es sein in der Welt. Und wie es auch sein mag, immer ist es gut im Sinne des Schöpfers“ – der schreckliche Ausdruck einer Statik, einer Fixierung an das Bestehende, die konsequenterweise jede verändernde Entwicklung verunmöglicht.
Über diesen Menschen Franz Joseph hat Karl Kraus folgendes Gedicht geschrieben:
Wie war er? War er dumm? War er gescheit?
Wie fühlt’ er? Hat es wirklich ihn gefreut?
War er ein Körper, war er nur ein Kleid?
War eine Seele in dem Staatsgewand?
Formte das Land ihn, formte er das Land?
Wer, der ihn kannte, hat ihn auch gekannt?
Trug ein Gesicht er oder einen Bart?
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