Es ist von unheimlich logischer Konsequenz, dass die Großverdränger in Österreich diejenigen am intensivsten ablehnen, welche zuerst den Mechanismus der Verdrängung durchschauten und bis heute und wohl zeitlos gültige Wege zu ihrer Aufhebung gewiesen haben: Sigmund Freud und Alfred Adler. Wohin kämen wir, wenn wir die Wahrheit über uns zuließen? Das darf unter keinen Umständen geschehen. Und deshalb werden den beiden Ansichten unterstellt, die sie nie gehabt haben (Wille zur Lust, Wille zur Macht), die dann aber ihre Negation geradezu zur selbstverständlichen Pflicht machen. Wildgans in der „Rede über Österreich“ wörtlich: „Der Österreicher ist von Geburt Psychologe, und Psychologie ist alles.“ Frage: Ist der Österreicher wirklich Psychologe? Ist ihm die Psychologie alles? Welche Aufnahme ließ dieser Österreicher Sigmund Freud und Alfred Adler zuteil werden, wie hat er die Gnade, solche Genies der Psychologie Mitbürger nennen zu dürfen, zu schätzen gewusst? Als Freud von Amerika triumphierend zurückkam, meinte er: „Drüben verstehen sie mich falsch“ – ein prophetisches Wort –, „aber hier lehnen sie mich aus tiefster Seele ab.“ So ist es im Grunde bis zum heutigen Tage geblieben. Es existiert in Wien z. B. zweimal eine Hansi-Niese-Gasse – ich bin ein Opfer davon, weil ich in der einen wohne, und viele Menschen verirren sich zuerst in den 13. Bezirk, um dann nach einer Stunde mühsam bei mir zu landen –, derselben Hansi Niese gewidmet, der Karl Kraus in „Die letzten Tage der Menschheit“ als Kriegsverherrlicherin ein so unrühmliches Denkmal gesetzt hat. Vergeblich wird man aber in der Stadt eine Straße, einen Platz suchen, der nach Freud oder nach Adler benannt ist. Mühsam müssen sich Amerikaner zur Berggasse 19 durchfragen, oft ist es ihr wichtigstes Ziel in Wien und sie können es nicht fassen, dass der große Meister hier totgeschwiegen wird. Aber lassen wir jetzt die Spielereien mit den Straßen, denn das sind ja nur Kleinigkeiten, freilich symbolträchtige. Schlimm ist schon, dass ein Denkmal, das im Hotel Bellevue daran erinnert, dass dort dem „Doktor Freud sich das Geheimnis des menschlichen Traumes enthüllte“, verwüstet wurde, am schlimmsten aber, dass man hier heute so lebt, als hätte Freud nie gelebt! Das ist das Entscheidende: Man kehrt in die vorfreudsche Zeit zurück, man verdrängt, huldigt einer Oberflächenpsychologie, betreibt jene Bewusstseinsverengung, von der gerade Freud gesagt hat, dass sie eine Vorstufe des Unterganges ist. Und Alfred Adler? Man hat das Wort „Minderwertigkeitskomplex“ von Adler losgetrennt, es gehört der Allgemeinheit, ist gleichsam zum Volkslied geworden. Man könnte das begrüßen, es als Zeichen großer Popularität werten, wenn nicht eine Absicht dahinter stünde, die man merkt und einen mehr als verstimmt, nämlich den Erfinder in der Versenkung des Vergessens verschwinden zu lassen. Und das in einem Lande, dessen Bewohner ständig zwischen rührseliger Unterschätzung und grenzenlosen Grandiositätsgefühlen hin und her schwanken! Zu Lebzeiten ist Freud niemals Ordinarius in Österreich geworden (Stefan Zweig: „Nun sind Sie ein außerordentlicher Professor unter so vielen ordentlichen!“), Adler hat man gar die Habilitation verweigert. Und heute? Nur mit Mühe und unter besonderem Druck ist endlich ein Lehrstuhl für Tiefenpsychologie geschaffen worden. Bis zum heutigen Tage wird Psychotherapie von den Krankenkassen kaum bezahlt, gibt es in weiten Landstrichen Österreichs keine Möglichkeit, diese Behandlung zu erhalten. Mit Recht hat Julia Schmidt die Vermutung geäußert, die meisten Österreicher wüssten gar nicht, was Psychotherapie ist, nicht zuletzt deswegen, weil es sich um eine „österreichische“ Erfindung handelt. Noch jetzt gehen Menschen, die eine Psychotherapie benötigen, möglichst heimlich zu ihrem Therapeuten. Es gilt als Zeichen der Schwäche, wenn man in seelischen Schwierigkeiten Hilfe benötigt, bei Christen wird es als Symptom mangelnden Glaubens gewertet, denn wer auf Gott vertraut, kann die Behandlung des Seelenarztes leicht entbehren! An dieser Stelle muss einbekannt werden, dass das „natürlich“ auch ganz wesentlich mit dem heute hier immer noch lebendigen Antisemitismus zu tun hat, der geradezu als ein Charakteristikum des Österreichers zu bezeichnen ist: Nicht zufällig fällt die Verschärfung der nationalsozialistischen antisemitischen Maßnahmen genau mit dem „Eintritt Österreichs in das großdeutsche Reich“ zusammen. Mahler, Kraus, Freud, Adler, die Liste ließe sich endlos fortsetzen – ja es ist nun einmal so, dass aus diesem Volk ganz besondere Entdecker, Pioniere und Mahner hervorgingen und noch hervorgehen. Und es ist eben so, dass das Neid erzeugt: „Warum sind die und nicht wir die erste Liebe Gottes gewesen?“ Und es ist eben so, dass bis zum heutigen Tag der christliche Antisemitismus, der die Wurzel des Hitler’schen Antisemitismus war – wie Heer nachgewiesen hat –, nicht überwunden erscheint. Das geht so weit, dass, wenn einer für die Juden eintritt, man sofort sagt – ich weiß davon ein Lied zu singen –: „Der muss selber ein Jud’ sein, sicher, den einen oder anderen Tropfen jüdischen Blutes wird er schon in sich haben.“ Ich habe bei einer Gelegenheit einmal geantwortet: „Ich kann nicht damit dienen, aber ich wäre sehr stolz, diesem Stamme anzugehören, aus dem so viele große Menschen gekommen sind.“
Darf ich zum Abschluss dieser These noch einmal auf Friedrich Heer zurückkommen? Wenn man ihn in der letzten Zeit besucht hat, konnte man ihn sagen hören: „Schaut mich an, ich bin ein Sterbender, ich sterbe schon seit Monaten, vielleicht schon seit Jahren. Erschreckt nicht, mein Sterben ist ein Teil des Lebens. Ich genieße dieses Sterben! Und seid nicht traurig, denn es gehört zu mir.“ Und manchmal fügte er hinzu: „Und wenn ihr wissen wollt, woran ich sterbe, dann sage ich euch, ich sterbe an Österreich, wir alle sterben an Österreich“, und verstummte. Wir alle sterben an Österreich. Ich glaube, es ziemt sich hier, wo wir an diesem Abend ganz besonders natürlich auch an Anton Wildgans denken, zu sagen, dass auch Anton Wildgans zweifellos an Österreich gestorben ist. Er hat genau dieses österreichische Schicksal erlitten, das er so präzise beschrieben hat. „Dieses Schicksal bedeutet, zu viel Energie aufwenden müssen, um eine Sache durchzusetzen, sie als notwendig den Maßgeblichen begreiflich zu machen, so daß Müdigkeit eingetreten ist, bevor die endlich durchgesetzte Sache durchgeführt werden darf.“
Wie intensiv sind die autobiografischen Züge im folgenden Gedicht:
Vieles magst Du an uns verschwenden
Alles verweht
Immer kommst Du mit Deinen Spenden
Leben, zu spät.
Nahmen wir doch in schaffenden Träumen
Alles bereits
Längst vorweg deinem kleinlichen Säumen
und deinem Geiz.
Müde sind wir, eh wir gefunden
Spuren des Lichts,
Außer jenen träumerischen Stunden
Haben wir nichts.
Es scheint mir für viele Österreicher geschrieben zu sein.
Vierte These: Ich habe gesprochen über die Neurotisierung, über die Verdrängung, über die Unterdrückung und Abschiebung der Aufdecker. Ich möchte jetzt über ein Symptom sprechen, das ich schon als Symptom jeder Neurose erwähnte, nämlich die Ambivalenz. Neurotisiert werden heißt, einen Menschen zugleich zu lieben und zu hassen, eine unheimliche Strukturierung des menschlichen Gefühlslebens. Es gibt in Holland einen Komponisten, Bernard van Beurden, der zur Eröffnung des Steirischen Herbstes 1979 eine Symphonie geschrieben und bei dieser Gelegenheit etwas sehr Interessantes über die Bewohner unseres Landes gesagt hat: „Der Österreicher hat eine Zweizimmerwohnung. Das eine Zimmer ist hell, freundlich, die ,schöne Stube‘, gut eingerichtet, dort empfängt er die Gäste. Das andere Zimmer ist abgedunkelt, finster, verriegelt, unzugänglich, völlig unergründlich.“
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