Als die Soldaten verschwunden waren, kehrte Marek zurück. »Habt ihr alles verstanden?« fragte er.
»Was?«
»Die Soldaten suchen nach drei Leuten aus Castelgard: zwei Männern und einer Frau.«
»Warum?« »Arnaut will mit ihnen reden.«
»Ist es nicht nett, beliebt zu sein?« sagte Chris mit schiefem Grinsen. »Alle sind hinter uns her.«
Marek gab jedem eine Handvoll nasses Gras und Blätter. »Wildgemüse. Das ist das Frühstück. Eßt auf.« Chris kaute die Pflanzen geräuschvoll. »Köstlich«, sagte er. Er meinte es ernst.
»Die Pflanze mit den gezackten Blättern ist Mutterkraut. Das hilft gegen die Schmerzen. Der weiße Stengel ist Weide. Wirkt abschwellend.« »Danke«, sagte Chris. »Es ist sehr gut.«
Marek starrte ihn ungläubig an. »Ist alles in Ordnung mit ihm?« fragte er Kate.
»Ich glaube, er ist okay.«
»Gut. Eßt auf, und dann gehen wir zum Kloster. Wenn wir an den Wachen vorbeikommen.«
Kate nahm ihre Perücke ab. »Das dürfte kein Problem sein«, sagte sie. »Sie suchen nach zwei Männern und einer Frau. Also, wer hat das schärfste Messer?«
Zum Glück waren ihre Haare bereits kurz, und so brauchte Marek nur ein paar Minuten, um die längeren Strähnen abzuschneiden und ihr eine Männerfrisur zu verpassen. Während er arbeitete, sagte Chris: »Ich habe über gestern nacht nachgedacht.«
»Offensichtlich hat noch jemand einen Ohrstöpsel«, sagte Marek. »Genau«, erwiderte Chris. »Und ich glaube, ich weiß, woher derjenige ihn hat.«
»Von Gomez«, sagte Marek.
Chris nickte. »Das nehme ich an. Du hast ihn ihr nicht abgenommen?« »Nein. Ich habe gar nicht daran gedacht.«
»Ich bin mir sicher, daß ein anderer ihn sich weit genug ins Ohr hineindrücken kann, um etwas zu verstehen, auch wenn er ihm nicht richtig paßt.«
»Ja«, sagte Marek. »Aber die Frage ist, wer? Wir sind im vierzehnten Jahrhundert. Ein fleischfarbener Klumpen, der spricht, ist
Zauberei. Ein furchterregendes Ding für jeden, der es findet. Wer es aufhebt, würde es gleich wieder fallenlassen wie eine heiße Kartoffel — und es dann sofort zertreten. Oder sich aus dem Staub machen.« »Ich weiß«, sagte Chris. »Deshalb komme ich ja, sooft ich drüber nachdenke, immer nur auf eine mögliche Antwort.« Marek nickte. »Diese Mistkerle haben es uns nicht gesagt.« »Was gesagt?« fragte Kate.
»Daß noch jemand hier ist. Jemand aus dem zwanzigsten Jahrhundert.« »Es ist die einzig mögliche Antwort«, sagte Chris. »Aber wer?« fragte Kate.
Chris hatte schon den ganzen Morgen darüber nachgedacht. »De Kere«, sagte er. »Es muß de Kere sein.« Marek schüttelte den Kopf.
»Überleg mal«, sagte Chris. »Er ist erst seit einem Jahr hier, richtig? Niemand weiß, woher er kam, oder? Er hat sich bei Oliver eingeschlichen, und er haßt uns, weil er weiß, daß wir es auch tun könnten, richtig? Er führt seine Soldaten von der Gerberei weg, geht die Straße hoch, bis wir etwas sagen — und dann kommt er sofort zurück.« »Die Sache hat nur einen Haken«, bemerkte Marek. »De Kere spricht fließend Provenzalisch.« »Na ja, du auch.«
»Nein, ich rede schwerfällig wie ein Ausländer. Ihr zwei hört euch die Übersetzungen aus den Ohrstöpseln an. Ich höre mir das an, was die Leute wirklich sagen. De Kere spricht wie ein Einheimischer. Völlig flüssig, und mit einem Akzent wie alle anderen. Und im zwanzigsten Jahrhundert ist Provenzalisch eine tote Sprache. Es ist unmöglich, daß er aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammt und so redet. Er muß von hier sein.«
»Vielleicht ist er Linguist.«
Marek schüttelte den Kopf. »Es ist nicht de Kere«, sagte er. »Es ist Guy
Malegant.«
»Sir Guy?«
»Keine Frage«, sagte Marek. »Ich hatte meine Zweifel an ihm, seit er uns in diesem Geheimgang überraschte. Wißt ihr noch? Wir waren fast völlig still da drin - aber er öffnet die Tür und ertappt uns. Er versuchte nicht einmal, überrascht zu wirken. Er zog sein Schwert nicht, sondern rief einfach nur nach den Wachen. Weil er bereits wußte, daß wir da drin waren.«
»Aber so ist es doch gar nicht passiert«, sagte Chris. »Sir Daniel kam überraschend ins Zimmer.«
»Wirklich?« fragte Marek. »Ich kann mich nicht erinnern, daß er hereinkam.«
»Also, ich glaube«, sagte Kate, »daß Chris recht haben könnte. Es könnte de Kere sein. In diesem Durchgang zwischen Kapelle und Burg hing ich nämlich ziemlich hoch oben an der Mauer, und de Kere gab seinen Soldaten den Befehl, euch zu töten, und ich weiß noch, daß ich eigentlich zu weit weg war, um ihn zu verstehen, aber trotzdem verstand ich ihn.«
Marek starrte sie an. »Und was ist dann passiert?«
»Dann flüsterte de Kere einem Soldaten etwas zu ... Und ich konnte nicht verstehen, was er sagte.«
»Genau. Weil er keinen Ohrstöpsel hatte. Wenn er einen gehabt hätte, hättest du alles verstanden, auch Geflüstertes. Aber er hatte keinen. Es ist Sir Guy. Wer hat Gomez den Kopf abgeschlagen? Sir Guy und seine Männer. Bei wem wäre es am wahrscheinlichsten, daß er zur Leiche zurückkehrt und den Ohrstöpsel an sich nimmt? Bei Sir Guy. Die anderen Männer hatten eine Heidenangst vor der blitzenden Maschine. Nur Sir Guy hatte keine Angst. Weil er wußte, worum es sich handelte. Er ist aus unserem Jahrhundert.«
»Ich glaube nicht, daß Guy schon da war«, sagte Chris, »als die Maschine blitzte.«
»Aber mein Hauptargument ist«, sagte Marek, »daß Sir Guy ein entsetzliches Provenzalisch spricht. Er klingt wie ein New Yorker, der durch die Nase redet.«
»Na ja, ist er denn nicht aus Middlessex? Und ich glaube nicht, daß er von vornehmer Herkunft ist. Ich habe den Eindruck, seine Ritterwürde ist für Tapferkeit verliehen, nicht ererbt.«
»Er war als Lanzenkämpfer nicht gut genug, um dich im ersten Anlauf aus dem Sattel zu werfen«, sagte Marek. »Und er war nicht gut genug mit dem Schwert, um mich zu töten. Ich sag's euch, es ist Guy de Malegant.« »Na ja«, sagte Chris, »wer immer es ist, jetzt weiß er, daß wir zum Kloster gehen.«
»Das stimmt«, sagte Marek, trat einen Schritt von Kate zurück und sah ihre neue Frisur prüfend an. »Also gehen wir.«
Kate berührte unsicher ihre Haare. »Muß ich froh sein, daß ich keinen
Spiegel habe?«
Marek nickte. »Vermutlich.«
»Sehe ich aus wie ein Kerl?«
Chris und Marek wechselten einen Blick. »So irgendwie.«
»So irgendwie?«
»Ja. Du siehst aus wie ein Kerl.«
»Es reicht auf jeden Fall«, sagte Marek.
Sie standen auf.
Die schwere Holztür öffnete sich einen Spalt. Aus der Dunkelheit spähte sie ein Gesicht an, das von einer weißen Kapuze verschattet war. »Gott gewähre Euch Wachstum und Wohlstand«, sagte der Mönch feierlich.
»Gott gewähre Euch Gesundheit und Weisheit«, erwiderte Marek auf provenzalisch.
»Was ist Euer Begehr?«
»Wir sind hier, um Bruder Marcel zu sehen.«
Der Mönch nickte, fast so, als hätte er sie erwartet. »Certum, Ihr möget eintreten«, sagte er. »Ihr seid zur rechten Zeit gekommen, denn er ist noch hier.« Er öffnete die Tür ein Stückchen weiter, so daß sie, einer nach dem anderen, eintreten konnten.
Sie fanden sich in einem kleinen, steinernen und sehr dunklen Vorraum wieder. Es duftete nach Rosen und Orangen. Aus dem Inneren des Klosters hörten sie leise Gesänge.
»Ihr könnt Eure Waffen hier ablegen«, sagte der Mönch und deutete in eine Ecke des Zimmers.
»Guter Bruder, ich fürchte, das können wir nicht«, sagte Marek.
»Hier habt Ihr nichts zu befürchten. Legt die Waffen ab, oder geht wieder.«
Zuerst wollte Marek protestieren, doch dann nahm er sein Schwert ab. Der Mönch führte sie einen stillen Gang entlang. Die Wände bestanden aus nacktem Stein. Dann bog er um eine Ecke in einen anderen Gang. Das Kloster war sehr groß und unübersichtlich wie ein Labyrinth. Es war ein Zisterzienserkloster, die Mönche trugen weiße Kut-ten aus schlichtem Tuch. Die Zisterzienser begriffen die Strenge ihrer Ordensregel als bewußte Kritik an den korrupteren Orden der Benediktiner und der Dominikaner. Von Zisterziensermönchen wurde eine strenge Disziplin erwartet, ein Leben in äußerster Enthaltsamkeit. Seit Jahrhunderten erlaubten die Zisterzienser keine Verzierungen an ihren schlichten Gebäuden, keine Illustrationen in ihren Manuskripten. Ihre Ernährung bestand aus Gemüse und Wasser ohne Fleisch und Soßen. Die Pritschen waren hart, die Zellen nackt und kalt. Jeder Aspekt ihres klösterlichen Lebens war entschieden spartanisch. Tatsächlich aber hatte diese strenge Disziplin - Twock!
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