Marek deutete nach rechts und links. Chris sah ein schwaches silbernes Glitzern im Gebüsch auf der anderen Seite des Pfads -Rüstungen im Licht der Sterne.
Und dann hörte er ganz nahe ein Rascheln.
Es war ein Hinterhalt, Soldaten, die zu beiden Seiten des Pfads auf sie lauerten.
Marek deutete zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Leise entfernten sie sich von dem Pfad. »Wohin jetzt?« flüsterte Chris.
»Wir bleiben vom Pfad weg. Gehen in östlicher Richtung zum Fluß. Da entlang.« Marek gab die Richtung vor, und sie machten sich auf den Weg.
Chris war jetzt sehr nervös und horchte auf das leiseste Geräusch. Doch ihre eigenen Schritte waren so laut, daß sie andere Geräusche übertönten. Jetzt verstand er, warum Marek so oft stehengeblieben war. Er hatte einfach ganz sichergehen wollen.
Sie liefen zweihundert Meter durch den Wald zurück und zwischen Feldern hindurch zum Fluß hinunter. Obwohl es fast stockfinster war, kam Chris sich sehr exponiert vor. Die Felder waren mit Steinmäuerchen umgrenzt, so daß sie wenigstens etwas Deckung hatten. Aber er fühlte sich dennoch unbehaglich und seufzte erleichtert auf, als sie wieder in nachtdunkles Gebüsch eintauchten. Die stille, schwarze Welt war Chris völlig fremd, und doch gewöhnte er sich schnell daran. Gefahr drohte von der kleinsten Bewegung, von Geräuschen, die fast unhörbar waren. Chris bewegte sich geduckt, den Körper angespannt, er zögerte bei jedem Schritt, bevor er mit vollem Gewicht auftrat, und schaute beständig nach links und rechts. Er kam sich vor wie ein Tier, und ihm fiel wieder ein, wie Ma-rek vor dem Angriff im Turmzimmer die Zähne gebleckt hatte, fast wie ein Affe. Er schaute zu Kate hinüber und sah, daß auch sie sich geduckt und angespannt bewegte.
Aus irgendeinem Grund dachte er plötzlich an den Seminarraum im ersten Stock des Peabody in Yale mit seinen cremefarbenen Wänden und den polierten Zierleisten aus dunklem Holz und an die Diskussionen unter den Doktoranden an dem langen Tisch: ob prozessuale Archäologie eher historisch oder eher archäologisch sei, ob formalistische Kriterien schwerer wögen als objektivistische Kriterien, ob sich hinter der derivationistischen Lehre nicht eine normative Absicht verberge.
Es war kein Wunder, daß sie stritten. Diese Themen waren reine Abstraktionen, die aus nichts als heißer Luft bestanden. Leere Debatten dieser Art konnten nie zu einem Abschluß kommen, die Fragen nie beantwortet werden. Dennoch hatte so viel Intensität, so viel Leidenschaft in diesen Debatten gelegen. Warum nur? Wem lag es wirklich am Herzen? Er konnte sich nicht mehr erinnern, warum das alles so wichtig gewesen war.
Die akademische Welt schien Welten entfernt, nicht mehr als eine graue und undeutliche Erinnerung, als er sich nun die dunkle Hügelflanke hinunter zum Fluß vorkämpfte. Doch wie verängstigt und nervös er in dieser Nacht auch sein mochte, wie bedroht sein Leben auch sein mochte, dies hier war real auf eine Art, die beruhigend, ja sogar belebend war, und — Er hörte einen Ast knacken und erstarrte. Auch Marek und Kate erstarrten.
Sie hörten Rascheln im Unterholz links von ihnen und dann ein leises Schnauben. Marek griff nach seinem Schwert.
Der kleine dunkle Umriß eines Wildschweins zockelte an ihnen vorbei. »Hätte es töten sollen«, flüsterte Marek. »Ich habe Hunger.« Sie gingen weiter, aber Chris merkte, daß nicht sie es gewesen waren, die das Schwein aufgescheucht hatten. Denn jetzt hörten sie unverkennbar das Geräusch vieler Schritte. Die raschelnd und knackend durch das Unterholz brachen. Auf sie zukamen.
Marek runzelte die Stirn.
Er konnte in der Dunkelheit genug erkennen, um hin und wieder eine metallene Rüstung aufblitzen zu sehen. Es mußten sieben oder acht Soldaten sein, die sich hastig in östlicher Richtung bewegten, sich dann im Unterholz versteckten und still lauerten. Was zum Teufel war hier nur los?
Die Soldaten hatten bereits am Lehmpfad auf sie gewartet. Dann waren sie nach Osten gezogen und lauerten jetzt wieder auf sie. Wie war das möglich?
Er sah Kate an, die hinter im kauerte, doch sie machte nur ein verängstigtes Gesicht.
Chris, der ebenfalls kauerte, tippte Marek auf die Schulter. Chris schüttelte den Kopf und deutete mit Nachdruck auf sein Ohr.
Marek nickte und horchte. Zuerst hörte er nichts als den Wind. Verwirrt sah er wieder Chris an, der sich nun mit übertriebener Geste knapp neben dem Ohr an den Kopf tippte.
Schalte deinen Ohrstöpsel an, meinte er damit.
Marek tippte sich ans Ohr.
Nach dem ersten kurzen Knistern nach dem Einschalten hörte er zunächst gar nichts. Achselzuckend schaute er Chris an, der ihm die erhobenen Handflächen entgegenstreckte: warte. Marek wartete. Erst nach einer Weile hörte er das leise, regelmäßige Atmen eines Menschen.
Er sah Kate an und hielt sich den Finger an die Lippen. Sie nickte. Er sah Chris an. Auch er nickte. Sie verstanden beide. Absolut kein Geräusch machen.
Wieder horchte Marek angestrengt. Noch immer hörte er in seinem Ohrstöpsel das leise Atmen. Aber es kam nicht von ihnen. Sondern von jemand anders.
Chris flüsterte: »Andre, das ist zu gefährlich. Wir sollten den Fluß nicht heute nacht überqueren.«
»Du hast recht«, flüsterte Marek. »Wir gehen zurück nach Castelgard und verstecken uns über Nacht vor der Stadtmauer.« »Okay. Gut.« »Dann los.«
In der Dunkelheit nickten sie einander zu und tippten sich dann ans Ohr,
um die Geräte auszuschalten.
Und dann hockten sie sich hin, um zu warten.
Kurz darauf hörten sie, wie die Soldaten aufstanden und wieder durchs Unterholz liefen. Doch diesmal den Hügel hinauf, zurück nach Castelgard.
Sie warteten noch fünf oder sechs Minuten. Dann gingen sie weiter den Hügel hinunter, weg von Castelgard.
Es war Chris, der sich schließlich alles zusammengereimt hatte. Als er in der Dunkelheit den Hügel hinunterstieg, hatte er sich mit der Hand eine Mücke vom Ohr gewischt und dabei unabsichtlich seinen Ohrstöpsel eingeschaltet, und kurz darauf hatte er deutlich jemand niesen hören.
Aber von ihnen dreien hatte keiner geniest.
Wenige Augenblicke später war ihnen das Schwein über den Weg gelaufen, und zu der Zeit hörte er bereits jemanden vor Anstrengung keuchen. Doch Kate und Marek, die in der Dunkelheit neben ihm standen, bewegten sich überhaupt nicht.
Zu diesem Zeitpunkt erkannte er, daß noch ein anderer einen Ohrstöpsel haben mußte - und als er jetzt darüber nachdachte, konnte er sich ziemlich gut vorstellen, woher der stammte. Von Gomez. Irgend jemand mußte Gomez' abgetrenntem Kopf den Stöpsel aus dem Ohr gezogen haben. Das einzige Problem mit dieser Theorie war nur — Marek stupste ihn an. Deutete nach vorne. Kate reckte den Daumen in die Höhe und grinste. Flach und leicht gekräuselt plätscherte der Fluß durch die Nacht. Die Dordogne war an dieser Stelle sehr breit, sie konnten das andere Ufer, eine Linie aus dunklen Bäumen und dichtem Unterholz, kaum erkennen. Bewegungen waren nirgendwo zu sehen. Als Chris flußaufwärts schaute, sah er gerade noch die dunklen Umrisse der Mühlenbrücke. Er wußte, daß die Mühle über Nacht geschlossen war. Müller konnten nur bei Tageslicht arbeiten, weil sogar die
Flamme einer Kerze eine Explosion des Mehlstauhs in der Luft verursachen konnte.
Marek berührte Chris am Arm und deutete zum gegenüberliegenden Ufer. Chris zuckte die Achseln, er sah nichts. Marek deutete noch einmal.
Chris kniff die Augen zusammen und konnte gerade noch vier dünne
Rauchsäulen erkennen, die in den Nachthimmel stiegen. Aber wenn der
Rauch von Feuern kam, warum sahen sie dann kein Licht?
Sie gingen am Wasser entlang flußaufwärts und kamen nach einer Weile zu einem am Ufer festgemachten Kahn. Er knirschte in der Strömung
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