»Auf der Flucht? Sie haben versucht zu fliehen? Auch wenn Sie damit das Leben ihres Meisters gefährdeten? Kommt mit mir, Magister«, sagte Lord Oliver düster und geleitete ihn zu einer Seitentür, die direkt in den Hof führte.
Kate lief die Wendeltreppe hinunter, Marek und Chris folgten dicht hinter ihr. Im ersten Stock mußten sie wegen einer Gruppe, die ein Stück vor ihnen hinunterstieg, innehalten. Kate sah Hofdamen und die rote Robe eines älteren Mannes. Hinter ihr schrie Chris: »Was ist denn los?«, und Kate hob warnend die Hand. Es dauerte noch eine ganze Minute, bis sie auf den Hof traten.
Auch hier ein furchterregendes Durcheinander. Ritter auf Pferden trieben das Gewimmel angsterfüllter Feiernder mit Gewalt auseinander. Kate hörte die Schreie der Menge, das Wiehern der Pferde, die Rufe der Soldaten auf der Mauerkrone. »Hier entlang«, rief sie und führte Chris und Marek an der Mauer entlang, hinten um die Kapelle herum und dann seitlich in den äußeren Hof, der ähnlich überfüllt war.
Dann entdeckten sie Oliver auf einem Pferd, mit dem Professor an seiner Seite und einem Trupp Ritter in voller Rüstung. Oliver rief etwas, und alle ritten auf die Zugbrücke zu.
Kate ließ Chris und Marek zurück, um sie allein zu verfolgen, und sie schaffte es gerade noch, am Ende der Zugbrücke einen Blick auf sie zu erhäschen. Oliver wandte sich nach links, er ritt von der Stadt weg. Eine Wache öffnete ein Tor in der östlichen Mauer, und er ritt mit seiner Truppe hindurch ins nachmittägliche Sonnenlicht. Hinter ihnen wurde das Tor schnell wieder geschlossen. Marek holte sie ein. »Wohin?« fragte er.
Sie zeigte zum Tor. Dreißig Ritter bewachten es. Und noch mehr standen auf der Mauerkrone darüber.
»Dort kommen wir nie raus«, sagte er. Direkt hinter ihnen warfen einige Männer ihre braunen Kutten ab und präsentierten sich als Soldaten in grünen und schwarzen Überwürfen; sie fingen sofort an, sich einen Weg ins Schloß zu erkämpfen. Die Ketten der Zugbrücke begannen zu rasseln. »Kommt.«
Als sie über die Zugbrücke rannten, hörten sie das Holz ächzen und spürten, wie es unter ihren Füßen in die Höhe stieg. Die Brücke war bereits einen Meter in der Luft, als sie das andere Ende erreichten. Sie sprangen und landeten auf der freien Wiese.
»Und jetzt?« fragte Chris und stand auf. Er hatte noch immer sein blutiges Schwert in der Hand.
»Hier entlang«, sagte Marek und lief direkt auf das Zentrum der Stadt zu.
Ihr Weg führte an der Kirche vorbei und dann weg von der schmalen Hauptstraße, in der bereits heftig gekämpft wurde: Olivers Soldaten in Kastanienbraun und Grau gegen Arnauts Soldaten in Grün und Schwarz. Marek führte sie nach links durch den Markt, der jetzt verlassen war, alle Waren verpackt, das Gewimmel der Händler verschwunden. Sie mußten zur Seite springen, als ein Trupp von Arnauts Rittern an ihnen vorbei und auf die Burg zugaloppierte. Einer von ihnen schlug mit dem Breitschwert nach Marek und rief etwas. Marek wich aus, sah ihnen nach und ging dann weiter.
Chris hatte mit ermordeten Frauen oder abgeschlachteten Babys gerechnet und wußte nicht so recht, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte, als er keine Anhaltspunkte für solche Greueltaten entdecken konnte. Genaugenommen sah er überhaupt keine Frauen oder Kinder. »Sie sind alle davongelaufen oder verstecken sich«, sagte Marek. »Hier herrscht schon lange Krieg. Die Leute wissen, was sie tun müssen.« »Wohin?« fragte Kate. Sie bildete die Spitze. »Nach links, zum Haupttor.«
Sie bogen nach links in eine schmalere Straße ein, und plötzlich hörten sie hinter sich einen Ruf. Sie drehten sich um und sahen, daß Soldaten auf sie zugelaufen kamen. Chris wußte nicht, ob die Soldaten sie verfolgten oder einfach nur rannten. Aber es wäre unklug gewesen zu warten, um das herauszufinden.
Marek fing an zu laufen; jetzt liefen sie alle, und als Chris sich nach einer Weile umdrehte, sah er, daß die Soldaten zurückgefallen waren, und spürte plötzlich Stolz in sich aufsteigen: Sie hängten sie ab. Aber Marek ging kein Risiko ein. Abrupt bog er in eine Seitenstraße ab, in der es stark und unangenehm roch. Die Geschäfte und Werkstätten waren alle geschlossen, aber zwischen ihnen führten schmale Gassen hindurch. Marek lief in eine hinein, die sie zu einem umzäunten Hof hinter einem Laden führte. Auf dem Hof standen riesige Fässer und unter einem Verschlag hölzerne Gestelle. Hier war der Gestank fast überwältigend: eine Mischung aus verfaulendem Fleisch und Fäkalien. Es war eine Gerberei.
»Schnell«, sagte Marek, und sie kletterten über den Zaun und duckten sich hinter die stinkenden Fässer.
»Uff«, sagte Kate und hielt sich die Nase zu. »Was ist das für ein Geruch?«
»Sie weichen die Häute in Hühnerscheiße ein«, flüsterte Chris. »Der
Stickstoff in den Fäkalien macht das Leder weich.«
»Toll.«
»Und auch Hundescheiße.« »Klasse.«
Chris drehte sich um und sah weitere Fässer und Tierhäute, die auf den Gestellen hingen. Hier und dort lagen stinkende Haufen käsig gelblichen Materials auf dem Boden — Fett, das man von der Innenseite der Häute abgekratzt hatte. Kate sagte: »Mir brennen die Augen.«
Chris deutete auf die weiße Kruste auf den Fässern um sie herum. Sie enthielten Löschkalk, eine starke alkalische Lösung, in der die Häute nach dem Abschaben eingeweicht wurden, um Haare und Fleischreste zu entfernen. Es waren die Kalkdämpfe, die ihnen in den Augen brannten.
Dann wurde seine Aufmerksamkeit auf die Gasse gelenkt, wo er schnelle Schritte und das Scheppern von Rüstungen hörte. Durch den Zaun sah er Robert de Kere mit sieben Soldaten. Die Soldaten schauten im Laufen in alle Richtungen - sie suchten sie.
Warum? fragte sich Chris, der um das Faß herumspähte. Warum wurden sie noch immer verfolgt? Was war so wichtig an ihnen, daß de Kere einen feindlichen Angriff ignorierte und statt dessen versuchte, sie zu töten?
Anscheinend mochten die Verfolger den Gestank der Gasse so wenig wie Chris, denn kurz darauf bellte de Kere einen Befehl, und sie kehrten um und liefen zur Straße zurück. »Was sollte denn das?« flüsterte Chris schließlich. Marek schüttelte nur den Kopf.
Dann hörten sie Männer rufen, und die Soldaten kehrten zurück. Chris runzelte die Stirn. Wie konnten sie ihn nur gehört haben? Er sah Marek an, der ebenfalls besorgt schien. Von außerhalb des Hofes hörten sie de Kere rufen: »Ici! Ici!« Wahrscheinlich hatte de Kere einen Mann zurückgelassen. Das muß es sein, dachte Chris. Denn eigentlich hatte er nicht laut genug geflüstert, um von den davoneilenden Soldaten gehört zu werden. Marek wollte losrennen, zögerte dann aber. Denn schon kletterten de Kere und seine Soldaten über den Zaun — insgesamt acht Männer; sie würden sich unmöglich gegen alle wehren können. »Andre«, sagte Chris und deutete auf das Faß, hinter dem sie kauerten. »Das ist Lauge.«
Marek grinste. »Dann los«, sagte er und stemmte sich gegen das Faß.
Mit vereinten Kräften schafften sie es, das Faß umzukippen. Schäumende alkalische Lösung schwappte auf den Boden und floß auf die Soldaten zu. Der Gestank war beißend. Die Soldaten merkten sofort, was es war —jeder Kontakt würde die Haut verbrennen -, und kletterten hastig wieder auf den Zaun, um die Füße vom Boden zu bekommen. Die Zaunpfosten zischten und britzelten, als die Lauge sie berührte. Der Zaun schwankte unter dem Gewicht der Männer; sie schrien und zogen sich in die Gasse zurück.
»Jetzt«, sagte Marek und führte sie tiefer in die Gerberei. Schließlich kletterten sie über einen Verschlag und sprangen in eine andere Gasse. Es war bereits später Nachmittag, das Licht verlosch langsam. Vor sich sahen sie die brennenden Bauernhöfe, die harte, flackernde Schatten auf die Erde warfen. Anfangs hatte man noch versucht, die Feuer zu löschen, doch jetzt kümmerte sich niemand mehr darum; die Strohdächer loderten, mit einem Knistern stiegen brennende Halme in die Luft.
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