»Pater noster qui es in coelis Sanctificetur nomen tuum Adveniat regnum tuum Fiat voluntas tua.«
Kate warf immer wieder verstohlene Blicke auf die Speisen. Die
Kapaune dampften! Sie sahen fett aus, gelber Bratensaft troff auf die
Platten. Dann merkte sie, daß die Mönche neben ihr ziemlich verwirrt
über ihr Schweigen waren. Anscheinend sollte sie dieses Gebet kennen.
Marek neben ihr sang laut:
»Panem nostrum cotidianuni
Da nobis hodie e! dimitte nobis debita nostra.«
Sie verstand kein Latein, und sie konnte nicht mitsingen, deshalb schwieg sie bis zum »Amen«.
Die Mönche hoben alle den Kopf und nickten ihr zu. Sie hatte diesen Augenblick gefürchtet und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. Jetzt würden sie wohl mit ihr reden, und sie würde nicht antworten können. Was sollte sie tun?
Sie sah Marek an, der völlig entspannt wirkte. Warum auch nicht, er beherrschte ja die Sprache.
Ein Mönch reichte ihr schweigend eine Platte mit Rindfleisch. Tatsächlich herrschte Stille im ganzen Saal. Das Essen wurde wortlos weitergereicht, es war nichts zu hören außer dem leisen Klappern von Tellern und Messern. Sie aßen schweigend!
Sie nahm die Platte, nickte und nahm sich eine große Portion, dann noch eine, bis sie Mareks mißbilligenden Blick bemerkte. Sie gab ihm die Platte.
In einer Ecke des Saals fing ein Mönch an, einen lateinischen Text zu lesen, und die Worte klangen wie eine Melodie in ihren Ohren, während sie hungrig aß. Sie war am Verhungern. Sie konnte sich nicht erinnern, je mit mehr Genuß gegessen zu haben. Sie schaute kurz zu Marek, der mit einem stillen Lächeln auf dem Gesicht aß. Sie wandte sich ihrer Suppe zu, die köstlich schmeckte, und dann sah sie wieder Marek an.
Er lächelte nicht mehr.
Marek hatte die ganze Zeit die Eingänge im Auge behalten. Es gab drei in diesem großen Saal, einen rechts von ihm, einen links und einen direkt vor ihm in der Mitte der Längswand.
Kurz zuvor hatte er gesehen, wie sich eine Gruppe Soldaten am rechten Eingang versammelte. Sie spähten herein, als wären sie neugierig auf das Essen, aber sie blieben draußen.
Jetzt sah er eine zweite Gruppe Soldaten im mittleren Eingang stehen. Kate sah ihn an, und er beugte sich dicht zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Linker Eingang.« Die Mönche um sie herum warfen ihnen mißbilligende Blicke zu. Kate sah Marek an und nickte knapp zum Zeichen, daß sie verstanden hatte.
Wohin führte diese linke Tür? Dort waren keine Soldaten zu sehen, und der Raum dahinter war dunkel. Wohin er auch führte, sie würden es riskieren müssen. Er suchte Chris' Blick und bedeutete ihm mit einem unauffälligen Heben des Daumens: Zeit zu gehen. Chris nickte fast unmerklich. Marek schob eben seine Suppe weg und wollte aufstehen, als ein Mönch in weißer Kutte zu ihm kam, sich über ihn beugte und flüsterte: »Der Abt wird Euch jetzt empfangen.«
Der Abt von Sainte-Mere war ein vitaler Mann Anfang Dreißig, mit dem Körper eines Athleten und dem scharfen Auge eines Händlers. Seine schwarze Robe war mit eleganten Stickereien verziert, seine schwere Halskette bestand aus purem Gold, und die Hand, die er ihnen zum Kuß hinstreckte, trug Juwelen an vier Fingern. Er empfing sie in einem sonnigen Hof und ging dann neben Marek her, während Chris und Kate folgten. Die grün-schwarzen Soldaten waren überall. Der Abt war fröhlich und freundlich, aber er hatte die Angewohnheit, unvermittelt das Thema zu wechseln, als wollte er seinen Zuhörer überrumpeln. »Mir tun diese Soldaten von Herzen leid«, sagte der Abt, »aber ich fürchte, wir haben Eindringlinge in unserem Kloster — Olivers Männer —, und bis wir sie gefunden haben, müssen wir vorsichtig sein. Und Mylord Arnaut hat uns gnädigerweise seinen Schutz angeboten. Habt Ihr gut gegessen?«
»Dank der Gnade Gottes und Eurer eigenen, sehr gut, Hochwürdiger Abt.«
Der Abt lächelte freundlich. »Ich mag Schmeicheleien nicht«, sagte er.
»Und unser Orden verbietet sie.«
»Ich werde es mir zu Herzen nehmen«, sagte Marek.
Der Abt musterte die Soldaten und seufzte. »So viele Soldaten ruinieren die Jagd.«
»Was für eine Jagd denn?«
»Die Jagd eben, die Jagd«, sagte er ungeduldig. »Gestern morgen gingen wir jagen und kehrten mit leeren Händen zurück, nicht einmal einen Rehbock konnten wir vorweisen. Und Cervoles Männer waren noch gar nicht angekommen. Jetzt sind sie hier — zweitausend in allem. Was sie an Wild nicht erlegen, verscheuchen sie. Es wird Monate dauern, bis die Wälder sich wieder beruhigt haben. Was gibt es Neues von Magister Edwardus? Sagt es mir, denn ich bedarf dieser Nachrichten sehr.«
Marek runzelte die Stirn. Der Abt schien wirklich sehr gespannt und neugierig. Aber er schien eine spezifische Information zu erwarten.
»Hochwürdiger Abt, er ist in La Roque.« »Oh? Bei Sir Oliver?« »Ja, Hochwürdiger Abt.«
»Höchst unglücklich. Habt Ihr von ihm eine Nachricht für mich?« Offensichtlich hatte er Mareks verwirrten Blick gesehen. »Nein?« »Hochwürdiger Abt, Edwardus hat mir keine Nachricht für Euch anvertraut.«
»Vielleicht verschlüsselt? Irgendeine beiläufige oder unverständliche Formulierung?«
»Es tut mir leid«, antwortete Marek.
»Nicht so leid wie mir. Und jetzt ist er in La Roque?«
»Das ist er, Hochwürdiger Abt.«
»Fürwahr, das gefällt mir nicht«, sagte der Abt. »Denn La Roque ist uneinnehmbar.«
»Doch falls es einen Geheimgang ins Innere gibt...«, sagte Marek. »Ach, der Gang, der Gang«, wiederholte der Abt mit einer unwirschen Handbewegung. »Der ist noch mein Ruin. Ich höre von nichts anderem mehr. Jedermann möchte diesen Geheimgang kennen - und Arnaut noch mehr als alle anderen. Der Magister half mir, indem er Marcellus' alte Dokumente durchsuchte. Seid Ihr sicher, daß er Euch nichts gesagt hat?«
»Er sagte, wir sollten Bruder Marcel aufsuchen.« Der Abt schnaubte. »Certum, dieser Geheimgang war das Werk von Laons Gehilfen und Schreiber, sprich Bruder Marcel. Aber in den letzten Jahren war er nicht mehr bei gesundem Geist. Das ist auch der Grund, warum wir ihn in der Mühle leben ließen. Den ganzen Tag lang murmelte und stammelte er vor sich hin, und dann schrie er plötzlich auf, daß er Geister und Dämonen sehe, und er verdrehte die Augen und schlug wild um sich, bis die Vision verschwand.« Der Abt schüttelte den Kopf. »Die anderen Mönche verehrten ihn und sahen seine Visionen als Beweis seiner Frömmigkeit und nicht als Zeichen einer Krankheit, was sie eigentlich waren. Aber warum gab der Magister Euch den Befehl, ihn aufzusuchen?« »Der Magister sagte, Marcel habe den Schlüssel.« »Einen Schlüssel?« wiederholte der Abt. »Einen Schlüssel?« Er klang höchst verärgert. »Natürlich hatte er einen Schlüssel, er hatte viele Schlüssel, und die sind alle in der Mühle zu finden, aber wir können nicht —« Er taumelte nach vorne und sah Marek mit erschrockenem Gesichtsausdruck an.
Überall auf dem Hof schrien Männer und deuteten nach oben. Marek sagte: »Hochwürdiger Abt -«
Der Abt spuckte Blut und brach in Mareks Armen zusammen. Marek ließ ihn sanft zu Boden gleiten. Er spürte den Pfeil im Rücken des Abts, bevor er ihn sah. Weitere Pfeile surrten herab und bohrten sich neben ihm ins Gras.
Marek hob den Kopf und sah im Glockenturm der Kirche mehrere kastanienbraune Gestalten, die in schneller Folge ihre Pfeile abschössen. Ein Pfeil riß Marek die Kappe vom Kopf, ein zweiter durchlöcherte den Ärmel seines Hemds. Ein dritter bohrte sich tief in die Schulter des Abts.
Der nächste Pfeil traf Marek am Oberschenkel. Er spürte einen heftigen, brennenden Schmerz, der sein Bein entlangzuckte, er taumelte und fiel auf den Rücken. Vergeblich versuchte er aufzustehen, er war zu benommen, sein Gleichgewichtssinn hatte ihn verlassen. Er fiel wieder auf den Rücken, während um ihn herum Pfeile zu Boden surrten. Chris und Kate rannten durch den Pfeilhagel zur anderen Seite des Hofes, um dort Schutz zu suchen. Plötzlich schrie Kate auf, taumelte und stürzte zu Boden, einen Pfeil im Rücken. Dann rappelte sie sich wieder hoch, und Chris sah, daß der Pfeil ihr unter der Achsel in den Ärmel gefahren war, sie aber nicht getroffen hatte. Ein Pfeil streifte sein Bein und riß ihm den Stoff auf. Und dann erreichten sie den Kreuzgang und warfen sich keuchend hinter eine der Säulen. Pfeile prallten von den Wänden, den Säulen und Bögen um sie herum ab. Chris fragte: »Bist du okay?«
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