»Will sie aber nicht, Mickey«, wurde der Redeschwall des rothaarigen Iren durch den Navigator jäh zum Stillstand gebracht. »Falls es dich interessiert: Flughöhe 5.000 Fuß. Leicht bewölkt.«
Als wolle er sich rächen, ließ der Pilot die Sunderland weiter durchsacken. Die Passagierin, Agentin des Secret Service, quittierte es mit einem Stirnrunzeln.
»Ganz schöner Flurschaden, was, Miss?«, brummte der Kopilot, wickelte sein Sandwich ein und verstaute es unter dem Armaturenbrett.
Der Traum sämtlicher Cockpitinsassen nickte. »Kann man wohl sagen«, pflichtete sie ihm bei, während die Sunderland Kurs auf Wannsee nahm. »Fragt sich, ob man in so einem Trümmerhaufen überhaupt leben kann.«
»Und vor allem, wie lange noch«, fügte Fitzgerald hinzu, dessen Mundwerk offenbar nicht totzukriegen war. »Der nächste Winter kommt ja wohl bestimmt. Und dann nur stundenweise Strom. Na ja, was uns angeht, werden wir unser Bestes …«
Der Rest der Bemerkung ging im Geräusch der Rotorblätter, emporspritzender Gischt und dem Aufheulen der Motoren unter. Kaum auf dem Wasser, drosselte die Sunderland ihre Geschwindigkeit, glitt am Strandbad Wannsee vorüber und steuerte das Seeufer bei Kladow an.
Jetzt kam der anstrengende Teil, denn wie Flight Lieutenant Mickey Fitzgerald wusste, würde das Umladen der Fracht auf die bereitliegenden Boote geraume Zeit in Anspruch nehmen. Echte Knochenarbeit, bei der Miss Zuckerpüppchen, von der er nicht einmal den Vornamen kannte, mit Sicherheit im Wege war. Doch die Gebete des Piloten wurden erhört. Kurz nach der Landung legte ein Motorboot ab, beschrieb einen Halbkreis und steuerte auf den Ausstieg des Sunderland-Flugbootes zu.
»Also dann auf Wiedersehen, Miss …«, unternahm Mickey Fitzgerald einen letzten Anlauf, die Identität seiner Passagierin zu lüften. Vergeblich. Das mysteriöse Pin-up-
Girl verabschiedete sich von seinen Männern, beugte sich über den Pilotensitz und hauchte: »Danke für die Mühe, Flight Lieutenant. Es war mir ein Vergnügen.«
In der Gewissheit, dass dies nicht ohne Ironie geschah, konnte Fitzgerald seine Neugierde dennoch nicht unterdrücken. »Zum Abschied könnten Sie mir wenigstens verraten, wie Sie heißen, Miss«, rief er der MI6-Agentin hinterher, als sich diese zum Ausstieg bereit machte.
»Tut mir leid, Flight Lieutenant, das geht nicht«, lautete die Antwort. »Sonst müsste ich Sie und die übrigen Herren hier töten.«
*
»Reine Vorsichtsmaßnahme«, wiegelte Generalmajor Edwin O. Herbert, Kommandant des britischen Sektors von Berlin, mit Blick auf die RAF-Uniform seiner Gesprächspartnerin während des gemeinsamen Morgenspaziergangs ab. Für den im Frühlicht schimmernden Wannsee hatten allerdings weder er noch seine Begleiterin einen Blick übrig. Das galt auch für den Fischreiher, der unweit der Uferpromenade seine Kreise zog. Dafür war das Thema, um das es ging, viel zu ernst. »Eine Zivilistin an Bord einer Sunderland – auffälliger wäre es wirklich nicht gegangen.«
»Wie dem auch sei«, antwortete Gladys McCoy und klappte den Schminkspiegel zu, mit dem sie einen unauffälligen Blick auf den Adjutanten des Stadtkommandanten geworfen hatte, der ihnen in gebührendem Abstand folgte. »Wenn ich Sie richtig verstehe, scheint der Fall überaus brisant zu sein.«
»Und ob«, antwortete der Stadtkommandant, schleuderte einen Kieselstein ins Wasser und scheuchte prompt einen Schwarm Blesshühner auf. »Reichlich Grund zur Sorge, würde ich meinen.«
»Wie haben Sie überhaupt von dieser ›Operation Wotan‹ erfahren?«, fragte Gladys McCoy und ließ den Handspiegel in ihrer Uniformjacke verschwinden. »Per V-Mann?«
Der Generalmajor verneinte. »Per Überläufer. Oder so ähnlich.«
»Kalte Füße?«
»So hat er sich jedenfalls angehört.«
Die MI6-Agentin strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und erwiderte: »Seltsam, aber ich dachte, diese SS-Kommandos sollen absolut verschworene Einheiten gewesen sein.«
»Bis Kriegsende auf jeden Fall. Da soll es Hunderte Werwolf-Kommandos gegeben haben. Selbstständig operierend, zumeist SS-Angehörige, Hitler-Jungen, SA-Leute. Oder welche von der Partei. Mit einem Wort: die ganz Fanatischen. Organisiert in Jagdgruppen zu je fünf Mann beziehungsweise Jagdzügen, die so um die 30 Mann stark waren. Oder kleiner. Kam ganz auf den Auftrag an.«
»Wer weiß, vielleicht wird die Sache ja auch im Sand verlaufen.«
»Schon möglich. Trotzdem glaube ich nicht, dass wir auf einen Bluff reingefallen sind. Der Kerl, den ich vor drei Tagen an der Strippe gehabt habe, war jedenfalls kein Wichtigtuer. Und ein Witzbold schon gar nicht. Der hat es verdammt ernst gemeint.«
»›Operation Wotan‹ – fragt sich nur, wann, wo und in welcher Form diese ›Gruppe W 45‹ zuschlagen wird.«
»Schenkt man unserem Gewährsmann Glauben, wird es so etwas wie der Coup des Jahrhunderts werden. Was genau sich hinter dieser ›Operation Wotan‹ verbirgt, konnte er jedoch nicht sagen. Oder wollte es nicht. Nur so viel, dass die Aktion anscheinend morgen über die Bühne gehen soll.«
»Irgendwelche Anhaltspunkte bezüglich seiner Identität?«
»Fehlanzeige. Nur die Tonbandaufnahme. Sonst nichts. Ach ja, noch was: Er hat gesagt, dass mit Verrätern gewöhnlich kurzer Prozess gemacht wird. Und dass die SS noch lange nicht am Ende sei.«
»Wie wahr«, gestand die MI6-Agentin ein, an deren Hüften sich der Adjutant des Stadtkommandanten immer noch nicht sattgesehen hatte. »In diesem Punkt muss ich Mister Unbekannt beipflichten. Gestapo-Müller verschollen, Mengele untergetaucht, Eichmann vermutlich in Südamerika – sieht so aus, als wären die Herren gut über den Winter gekommen.«
»Wie das?«
»Dank rechtzeitig in die Schweiz transferierter Gelder«, vollendete Gladys McCoy. »Einer der Gründe, weshalb mich der MI6 hierher geschickt hat.«
Edwin O. Herbert runzelte fragend die Stirn. »Darf man fragen, worum …«
»… es geht?«, nahm ihm Gladys McCoy die Worte aus dem Mund. »Man darf. Wie unsere routinemäßige Überprüfung der Berliner Banken ergeben hat, sind seit der Währungsreform erhebliche Summen von Schweizer Konten zurück nach Deutschland geflossen. Auch und gerade nach Berlin.«
»Und an wen?«
»Bedaure, Sir – top secret.« Um ihren Gesprächspartner nicht zu brüskieren, setzte die MI6-Agentin ihr strahlendstes Lächeln auf. »In diesem Punkt sind meine Anweisungen glasklar.«
Der Stadtkommandant pfiff durch die Zähne. »Donnerwetter. Hört sich so an, als sei hier demnächst allerhand los.« In das Gespräch mit seiner mysteriösen Begleiterin vertieft, hatte der Generalmajor den Militärjeep nicht bemerkt, der mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf ihn zugeprescht war. Erst als dieser stehen blieb, tat er es Miss McCoy gleich und richtete den Blick nach vorn. »Was gibt’s, Lieutenant Colonel?«, fragte er den drahtigen Schotten, nachdem dieser eine Vollbremsung gemacht, salutiert und ihn beiseitegenommen hatte. »Bedaure, Sir, Sie unterbrechen zu müssen«, flüsterte der Ordonnanzoffizier in eindringlichem Ton. »Aber es gibt Neuigkeiten.«
»Und welche?«
Mit Blick auf die mysteriöse Schönheit, deren Fan-Club sich in diesem Moment um ein Mitglied vergrößerte, trat der Schotte so nahe wie möglich auf den Stadtkommandanten heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Je länger dies dauerte, umso besorgter wurde die Miene seines Vorgesetzten, und als er geendet hatte, musste sich dieser erst einmal setzen.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte Gladys McCoy, nahm neben ihm Platz und schlug die Beine übereinander. Sehr zur Freude des Ordonnanzoffiziers, der die Szene aus gehöriger Distanz beobachtete.
Da die Bank am Rande der Uferpromenade nicht sonderlich bequem war, dauerte es nicht lange, bis die
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