Er nickte eifrig. Kooperation? Kein Problem. Alles, was sie wollten.
Sie brauchten eine Speichelprobe von ihm. Außerdem seine Schuhe, seine Fingerabdrücke, die sich leicht abnehmen ließen. Und sie brauchten sein Schnitzwerkzeug für die Spurensicherung. »Ich nehme an«, sagte Isabelle, »dass es sich um alle möglichen scharfen Gegenstände handelt. Richtig? Die müssen wir alle überprüfen, Marlon.«
Tränen, Wimmern. Verächtliches, an einen Stier erinnerndes Schnauben des Vaters.
»Das alles dient nur dazu zu beweisen, dass du die Wahrheit sagst«, versicherte Isabelle dem Jungen. »Tust du das, Marlon? Sagst du die Wahrheit?«
»Ich schwör's«, sagte er. »Ich schwör's, ich schwör's, ich schwör's.«
Am liebsten hätte Isabelle ihm versichert, dass ein Schwur völlig ausreichte, doch sie sagte sich, dass dies wahrscheinlich reine Zeitverschwendung wäre.
Auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen fragte sie Lynley, was er von der ganzen Sache halte. »Es ist wirklich nicht unbedingt nötig, dass Sie in solchen Situationen die ganze Zeit schweigen, wissen Sie.«
Er sah sie von der Seite an. In Anbetracht der Hitze und der Begegnung mit den Kays wirkte sie bemerkenswert gefasst, ruhig, professionell, ja sogar kühl trotz der sengenden Sonne. Klugerweise - wenn auch untypischerweise - trug sie statt eines leichten Kostüms ein ärmelloses Kleid, was mehr als einem Zweck diente, wie Lynley erkannte: Denn es war nicht nur bequemer, sondern ließ sie auch weniger einschüchternd wirken, wenn sie die Zeugen befragte. Zeugen wie Marlon, dachte er, einen halbwüchsigen Jungen, dessen Vertrauen sie gewinnen musste.
»Ich hatte nicht den Eindruck, Sie brauchten meine…«
»Hilfe?«, fiel sie ihm ins Wort. »Das habe ich nicht gemeint, Thomas.«
Lynley schaute sie wieder an. »Eigentlich wollte ich sagen, meine Mitwirkung«, sagte er.
»Ah. Tut mir leid.«
»Das Thema macht Sie also angriffslustig?«
»Absolut nicht.« Sie kramte in ihrer Tasche herum und brachte eine dunkle Brille zum Vorschein. Dann seufzte sie und sagte: »Nein, es stimmt. Ich bin tatsächlich angriffslustig. Aber das muss man sein in unserem Job. Es ist nicht leicht für eine Frau.«
»Was ist nicht leicht? Die Ermittlung? Die Beförderung? Sich in den Fluren der Macht in der Victoria Street zurechtzufinden, so fragwürdig sie auch sein mögen?«
»Ja, ja, für Sie ist es leicht, sich auf meine Kosten zu amüsieren«, bemerkte sie. »Aber wahrscheinlich muss sich kein Mann mit den Fährnissen herumplagen, die einer Frau das Leben schwer machen. Erst recht kein Mann…« Anscheinend widerstrebte es ihr, den Satz zu Ende auszusprechen.
Er tat es für sie. »Kein Mann wie ich?«
»Ich bitte Sie, Thomas. Sie können wohl kaum behaupten, dass ein privilegiertes Leben - Familiensitz in Cornwall, Eton, Oxford… vergessen Sie nicht, ich weiß ein bisschen was über Sie - es Ihnen schwer gemacht hat, in Ihrem Metier erfolgreich zu sein. Und warum tun Sie das überhaupt? Sie haben es doch gewiss nicht nötig, als Polizist zu arbeiten. Geht ein Mann Ihres Schlags nicht im Allgemeinen Beschäftigungen nach, bei denen er weniger…«, sie suchte nach den richtigen Worten, »… weniger mit dem gemeinen Volk in Berührung kommt?«
»Zum Beispiel?«
»Ich weiß nicht. Im Vorstand von Krankenhäusern und Universitäten sitzen? Vollblutpferde züchten? Ein Anwesen verwalten - das eigene natürlich - und Pacht von Bauern eintreiben, die Schirmmützen und Gummistiefel tragen?«
»Meinen Sie solche, die mit demütig gesenktem Blick an der Küchentür erscheinen? Die in meiner Gegenwart hastig ihre Schirmmütze abnehmen? Den Bückling machen und so weiter?«
»Was zum Teufel ist ein Bückling?«, fragte sie. »Das habe ich mich schon immer gefragt. Ich meine, für mich ist ein Bückling was zum Essen.«
»Es hat mit Verbeugen und Füßescharren zu tun«, sagte er ernst, »mit dem Verhältnis zwischen Bauern und Herren, das zum Leben von Männern meines Schlags gehört.«
Sie sah ihn an. »Verdammt, ich sehe genau, wie Ihre Augen funkeln!«
»Entschuldigung«, sagte er lächelnd.
»Es ist tierisch heiß«, sagte sie. »Hören Sie, ich brauche etwas Kühles zu trinken. Und wir könnten die Zeit nutzen, um uns in Ruhe zu unterhalten. Hier gibt es bestimmt irgendwo einen Pub.«
Daran zweifelte er keineswegs, aber zuerst wollte er sich die Stelle ansehen, wo die Leiche entdeckt worden war. Sie waren bei ihrem Wagen angekommen, der vor dem Friedhof stand, und er fragte sie, ob sie ihn zu der Kapelle führen könne, wo man Jemima Hastings' Leichnam gefunden hatte.
Während er die Worte aussprach, wurde ihm bewusst, dass er einen weiteren Schritt getan hatte, fünf Monate, nachdem seine Frau auf den Stufen vor ihrem Haus ermordet worden war. Noch im Februar wäre die Vorstellung, dass er sich einen Ort ansehen würde, an dem ein Mensch getötet worden war, undenkbar gewesen.
Wie erwartet fragte Ardery ihn, warum er den Tatort zu sehen wünsche. Sie klang argwöhnisch, als hätte sie das Gefühl, er wolle ihre Arbeit kontrollieren. Sie erklärte ihm, der Tatort sei gründlich überprüft, geräumt und wieder für die Öffentlichkeit freigegeben worden, worauf er entgegnete, es sei reine Neugier, mehr nicht. Er habe die Fotos gesehen, jetzt interessiere ihn der Ort.
Sie gab nach. Er folgte ihr auf den Friedhof und über Wege, die sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelten. Es war kühler hier, wo das Laub Schatten spendete und kein Asphalt die Hitze in Wellen abstrahlte. Ihm fiel auf, dass sie »eine stattliche Figur« abgab, wie man es früher genannt hätte, als sie vor ihm herschritt. Sie ging, wie sie alles tat: selbstbewusst.
Sie führte ihn um die Kapelle herum zu dem Anbau. Dahinter, jenseits einer mit verdorrtem grasbedeckten Lichtung, an deren Rand eine steinerne Bank stand, ging der Friedhof weiter. Gegenüber der ersten stand eine zweite Steinbank, und dahinter befanden sich drei überwucherte Gräber und ein verfallenes Mausoleum.
»Der Tatort und die Umgebung wurden systematisch abgesucht«, erklärte Ardery. »Es wurde nichts gefunden, außer all dem Kram, der an einem solchen Ort zu erwarten ist.«
»Wie zum Beispiel?«
»Coladosen und sonstiger Müll wie Bleistifte, Kulis, Lagepläne des Friedhofs, Chipstüten, Schokoladenpapier, alte Busfahrscheine - ja, die werden zurzeit überprüft - und benutzte Kondome in einer Menge, die einen hoffen lässt, dass Geschlechtskrankheiten bald der Vergangenheit angehören werden.« Dann: »Sorry. Das war unangebracht.«
Er stand in der Tür des Anbaus, und als er sich umdrehte, sah er, wie sie errötete.
»Das mit den Kondomen«, sagte sie. »Wenn es andersherum wäre, könnte man die Bemerkung als sexuelle Belästigung auslegen. Ich entschuldige mich dafür.«
»Ah«, sagte er. »Kein Problem. Aber in Zukunft werde ich auf der Hut sein, also sehen Sie sich vor, Chefin.«
»Isabelle«, sagte sie. »Sie dürfen mich Isabelle nennen.«
»Ich bin im Dienst«, erwiderte er. »Was halten Sie von dem Graffito?« Er zeigte auf die Wand in dem Anbau, wo mit schwarzer Farbe »God Goes Wireless« und ein Auge in einem Dreieck aufgemalt waren.
»Das ist alt«, sagte sie. »Das war schon lange da, bevor sie ermordet wurde. Riecht nach Freimaurern, oder?«
»Ganz Ihrer Meinung.«
»Gut.« Als er sich ihr wieder zuwandte, sah er, dass die Röte in ihrem Gesicht nachgelassen hatte.
»Wenn Sie genug gesehen haben, würde ich jetzt gern etwas Kühles trinken. Auf der Stoke Newington Church Street gibt es ein paar Cafés, und wahrscheinlich finden wir dort auch einen Pub.«
Sie verließen den Friedhof auf einem anderen Weg, der sie an dem Grabmal vorbeiführte, das, wie er sich erinnerte, den Hintergrund auf Deborah St. James' Foto von Jemima Hastings gebildet hatte. Es stand an einer Weggabelung: ein lebensgroßer marmorner Löwe auf einem Sockel. Lynley blieb stehen, um die Inschrift zu lesen, die besagte, dass »sich alle an einem glücklichen Ostermorgen wiedersehen« würden. Wäre es doch wahr, dachte er.
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