Darüber war er sich bereits im klaren gewesen, als Dalziel angerufen hatte. Es war ihm die ganzen letzten Wochen über jeden Morgen klar gewesen, an dem er aufgestanden und zur Arbeit gegangen war.
Er kam sich vor wie ein Priester, der seinen Glauben verloren hatte.
Sein Verantwortungsbewußtsein ließ ihn immer noch Gottesdienste abhalten und Sakramente austeilen, aber es war bloßer Automatismus in der Hoffnung, der Glaubensverlust sei nur vorübergehend.
»Sind Sie Trappist geworden, oder schmollen Sie nur?« wollte der Dickwanst wissen.
Bedächtig kurbelte Pascoe die Scheibe wieder hoch.
»Ich warte nur, daß Sie mich aufklären, Sir«, entgegnete er.
»Ich dachte, das hätte ich getan.«
»Nein, Sir. Sie riefen mich an und sagten, in Danby werde ein Kind vermißt, und da Sie auf dem Weg dorthin sowieso bei mir vorbeikämen, würden Sie mich in zwanzig Minuten abholen.«
»Tja, das war eigentlich auch schon alles. Lorraine Dacre, sieben Jahre alt, ging mit ihrem Hund spazieren, bevor die Eltern aufgestanden waren. Der Hund ist wieder da, sie nicht.«
Pascoe sann darüber nach, während sie die Umgehungsstraße mit ihrer Autoschlange Richtung Küste überquerten, und sagte dann leichthin: »Nicht viel für den Anfang.«
»Sie meinen, nicht genug, um Ihnen Ihre Cocktailstunde auf der Terrasse zu versauen? Oder wollten Sie vielleicht noch bei Trockendock vorbeischauen und ’ne Runde in seinem Pool schwimmen?«
»Das hätte nicht viel Sinn«, erwiderte Pascoe. »Wir kommen gleich an Purlingstones Residenz vorbei, und wenn Sie über den Sicherheitszaun blinzeln, werden Sie entdecken, daß er genau das praktiziert, was er predigt. Der Pool ist leer. Deshalb sind sie heute ja auch mit den Mädchen ans Meer gefahren. Wir hätten mitfahren können, aber mir war nicht nach Stauschau zumute. Ein Fehler, wie ich jetzt merke.«
»Denken Sie ja nicht, ich hätte Sie nicht per Hubschrauber rausgeholt«, brummte Dalziel.
»Das glaube ich Ihnen sogar. Aber warum? Gut, ein vermißtes Kind ist immer ein ernster Fall, aber wir sind noch im grünen Bereich. Es kann doch sein, daß sie ausgerutscht ist und irgendwo mit verstauchtem Knöchel oder, schlimmer noch, mit einer Kopfverletzung am Berg hockt. Die örtliche Polizei organisiert eine Suche und hält uns auf dem laufenden. Erst wenn sich dabei nichts ergibt, werden wir vor Ort aktiv.«
»Stimmt, normalerweise hätten Sie recht. Aber bei diesem Ort handelt es sich um Danby.«
»Und das heißt?«
»Danbydale ist das Nachbartal von Dendale.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause.
Pascoe zermarterte sich das Hirn nach einer logischen Verbindung, und da sie gerade über Trockendock-Purlingstone geredet hatten, fiel ihm Wasser ein.
»Der Dendale-Stausee«, sagte er. »Der sollte all unsere Wasserprobleme bis ins nächste Jahrtausend lösen. Es gab eine öffentliche Umfrage, oder? Umweltschutz kontra das allgemeine Wohl der Bürger. Ich war damals nicht hier, aber wir haben ein Buch darüber, besser gesagt: Ellie. Sie interessiert sich für Lokalpolitik und Umweltsachen. ›Das Ende von Dendale‹ heißt es. Eher ein Kaffeeklatschgeschreibsel als eine soziologische Analyse, wenn ich mich recht erinnere … Entschuldigen Sie, Sir. Tut das überhaupt etwas zur Sache?«
»Sie sind nah dran, aber nicht ganz«, brummte der Dicke, dem seine zunehmende Ungeduld anzusehen war. »In dem Sommer damals, kurz bevor sie Dendale fluteten, verschwanden dort drei Mädchen. Wir haben ihre Leichen nie gefunden und den Fall nie abgeschlossen. Ich weiß, daß Sie nicht da waren, aber Sie müssen zumindest was davon gehört haben.«
»Ja, ich glaube, ich habe davon gehört«, antwortete Pascoe diplomatisch, während er fieberhaft überlegte. »Aber ich kann mich nicht an viel erinnern.«
»Ich kann mich sehr wohl erinnern«, sagte der Dicke. »Und die Eltern – ich wette, die können sich auch erinnern. Eines der Mädchen hieß Wulfstan. Deshalb bin ich vorhin bei ihrem Namen so zusammengezuckt.«
»Sie meinen die Sängerin? Gibt es eine Verbindung? Das kann kein häufiger Name sein.«
»Vielleicht. Aber sie ist nicht die Tochter. Sie hatten nur die eine, Mary. Den Vater hätte es beinah um den Verstand gebracht, als er sie verlor. Er bewarf uns mit allem möglichen Dreck und drohte, uns wegen Inkompetenz und ähnlichem zu belangen.«
»Hatte er denn recht?«
Dalziel warf ihm einen eisigen Blick zu, dem Pascoe ohne Blinzeln standhielt. Unterdrückter Zorn hatte auch seine Vorteile, wie etwa Immunität gegenüber Bedrohung.
»Einer der Ortsansässigen stand unter Verdacht«, fuhr der Dicke abrupt fort. »Ich hatte ihn nie ernsthaft im Visier, der hatte nicht alle Fransen am Teppich. Aber wir nahmen ihn nach dem Verschwinden des zweiten Mädchens mit. Konnten ihm nichts nachweisen und mußten ihn wieder laufenlassen. Dann verschwand Mary Wulfstan, und ihrem alten Herrn brannten die Sicherungen durch.«
»Und der Typ aus dem Dorf?«
»Benny Lightfoot. Der verschwand auch. Das heißt, einmal wurde er noch gesehen. Ein anderes Mädchen, Betsy Allgood, wurde von ihm angegriffen, aber das war später, Wochen später. Sie meinte, es sei definitiv Lightfoot gewesen. Damit war für die meisten der Fall erledigt, vor allem für die verdammten Zeitungsfritzen. In deren Augen hatten wir ihn schon geschnappt und dann wieder laufenlassen.«
»Sie waren anderer Meinung?«
»Oder wollte es sein. Das ist immer schwer zu unterscheiden.«
Dieses Eingeständnis von Schwäche war so beunruhigend wie das Räuspern aus einem Sarg.
»Also haben Sie ihn gesucht?«
»Es gab mehr Erscheinungen als bei Elvis. Irgend jemand entdeckte ihn sogar im Fernsehen beim Londoner Marathon. Das paßte. Dieser Benny trug seinen Namen zu Recht. Langsam im Hirn, schnell zu Fuß. Er konnte einen Berg geradezu rauffliegen. Nachdem wir nie eine Spur von ihm fanden, ist er vielleicht sogar drübergeflogen, wer weiß? Oder reingekrochen, wie manche im Dorf spekulierten.«
»Bitte?«
»In den Neb. So nennen sie den Berg zwischen Dendale und Danby. Auf der Karte heißt er Long Denderside. Voller verdammter Löcher, vor allem auf der Dendale-Seite. Nach Danby hin ist es ein anderes Gestein oder so, fragen Sie mich nicht. Also gibt es da jede Menge Höhlen und Tunnel, die meisten voll Wasser, außer in der Dürrezeit.«
»Haben Sie sie abgesucht?«
»Das Bergungsteam ging rein, nachdem das erste Mädchen verschwunden war. Und nach dem zweiten wieder. Nichts. Nun, sie sind eben nicht Benny Lightfoot, meinten die Dörfler. Der könnte durch eine Ritze im Gehsteig schlüpfen, unser Benny.«
»Und da hat er sich fünfzehn Jahre lang versteckt?« frotzelte Pascoe.
»Das bezweifle ich«, erwiderte Dalziel mit besorgniserregender Humorlosigkeit. »Aber er könnte sich eine Woche oder so dort verschanzt und nachts nach etwas Eßbarem gesucht haben. Betsy Allgood, die ihm entwischte, sagte, er hätte halb verhungert ausgesehen. Und durchnäßt. Die Dürrezeit hatte gerade aufgehört, und die Höhlen im Neb standen sicher unter Wasser. Ich hatte immer gehofft, er würde sich irgendwo da unten schlafen legen und ertrunken wieder aufwachen.«
Das Funkgerät lärmte, bevor Pascoe diesen interessanten Gedanken durchleuchten konnte, und die Zentrale gab eine aktuelle Zusammenfassung des Falles durch.
Lorraine Dacre, sieben Jahre, war das einzige Kind von Tony Dacre, dreißig, Postfahrer, nicht vorbestraft, und Elsie Dacre, geborene Coe, ebenfalls nicht vorbestraft. Acht Jahre verheiratet, wohnhaft in 7 Liggside, Danby. Lorraine war weder beim Sozialamt noch bei der Fürsorge gemeldet. Die vier Constables der Polizeidienststelle Danby, die Sergeant Clark unterstanden, waren bereits im Einsatz. Drei befanden sich auf dem Berg, um eine erste Suche zu überwachen. Verstärkung war angefordert und werde auf Superintendent Dalziels Kommando hin zur Verfügung stehen. Sergeant Clark werde Superintendent Dalziel im Haus an der Liggside treffen.
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