Er stand auf und zog sich hastig an. Ihm blieb noch genug Zeit, um den ersten Termin dieses Tages einzuhalten, doch vorher mußte er noch etwas erledigen, das ihn in die entgegengesetzte Richtung führte. Ohne sich Zeit für ein Frühstück zu nehmen, stieg er in den Wagen und fuhr die noch leeren Straßen in die Stadt hinunter.
Im Krankenhaus kam mißtrauisch ein Mann vom Sicherheitsdienst auf ihn zu, erkannte ihn dann und grüßte. Pascoe hob eine Hand, blieb jedoch nicht stehen. Leichtfüßig sprang er die Treppen hinauf, winkte der überraschten Schwester zu und trat in das kleine Zimmer, in dem Rosie lag.
Am vorigen Abend hatte er noch spät mit Ellie telefoniert, ihr erzählt, was geschehen war und was er am folgenden Morgen tun müsse. Dalziel hatte ihm versichert, daß seine Anwesenheit nicht notwendig sei. Pascoe hatte nicht widersprochen, sondern lediglich gesagt, daß er dasein werde. Ellie hatte es verstanden, ihn nach Hause geschickt, damit er möglichst viel Schlaf bekam, und ihm versichert, daß es Rosie auf wunderbare Weise gutging.
Gestern abend war Ellies Stimme, ihre Zuversicht, genug gewesen. Heute morgen mußte er es mit eigenen Augen sehen.
Ellie hatte sich ihr Bett ins Krankenzimmer rollen lassen, damit sie ständig bei ihrer Tochter sein konnte. Als Pascoe hereinkam, bewegte sie sich, wachte aber nicht auf. Er lächelte auf sie hinunter und schlich auf Zehenspitzen zu Rosies Bett.
Sie hatte die Zudecke zurückgeworfen und lag zusammengerollt mit einer Faust unter dem Kinn, wie Rodins »Denker«.
Denk nur zu, mein Liebes. Aber nicht zuviel. Noch nicht. Du hast Zeit genug, dir über die Widrigkeiten des Lebens den Kopf zu zerbrechen. Zeit genug.
Behutsam deckte er sie wieder zu. Wie schön wäre es, die Schuhe abzustreifen und sich hier neben Frau und Kind hinzulegen und nach einer Weile mit ihnen aufzuwachen. Aber es gab Arbeit. Eine Schuld zu begleichen. Wie hatte Ellie ihn genannt? Frommer Äneas, auf dem Weg zur Lavinischen Küste?
Die Götter mußten wohl einen Hang zur Ironie haben, daß der Anblick der zwei liebsten Menschen ihn einerseits in Versuchung führte, seine Pflicht zu vernachlässigen, ihm andererseits aber auch genügend Kraft dafür gab.
Er berührte Rosies Stirn mit den Lippen und beugte sich dann über Ellie.
Ein Schreibblock lag neben ihr, halb vom Laken verdeckt. Sie hielt noch immer den Stift in der Hand. Sie hatte also wieder angefangen zu schreiben. Sie war einfach nicht unterzukriegen! Das Überstehen einer enormen Krise gab ihr die Kraft, sich umzudrehen und sich all den kleineren Krisen zu stellen. Nicht unterzukriegen!
Schuldbewußt spähte er auf das Bleistiftgekritzel. Angenommen, es war gar kein neues Buch, sondern etwas ungemein Persönliches … aber nein, da standen die beruhigenden Worte »Erstes Kapitel«. Er las die ersten Zeilen.
Es war eine dunkle und stürmische Nacht. Der Wind blies von der Seeseite, und der Wachoffizier stemmte sich eingehüllt in seinen Umhang dagegen, als er das schützende Gehölz verließ und die Landzunge hinaufzuklettern begann.
Ellie bewegte sich leicht. Er betrachtete sie voller Liebe und Bewunderung. Nicht unterzukriegen. Ein neues Lied, hatte sie gesagt. Ich glaube, nach dieser Sache sind wir alle reif für ein paar neue Lieder. Und mit typischer Kühnheit hatte sie als Fanfare den abgedroschensten Romanbeginn der Literaturgeschichte gewählt!
Mit einer Frau wie dieser an seiner Seite konnte ein Mann überallhin gehen.
Doch erst mußte er allein etwas erledigen.
Er küßte sie zärtlich und verließ das Zimmer.
Die Brise, die morgens die Birke am Haus durchweht hatte, war stärker geworden, zerrte an seinem Haar und kündigte einen Umschwung an. Während er nach Norden fuhr, sah er zum erstenmal seit Wochen am blauen Ozean des Himmels kleine silberne Schaumkronen am Horizont aufsteigen.
Das Tor zum Stausee wurde von grimmig dreinblickenden Polizisten bewacht, die Pascoes Ausweis kontrollierten, obwohl sie ihn kannten. Heute ging alles nach Vorschrift.
Obwohl er schnell gefahren war, hatte sein Umweg zu einer Verspätung geführt, und er sah die anderen am Rande des ausgetrockneten Sees auf ihn warten. Die Begrüßung war kurz und verhalten. Schweigend sahen die anderen zu, wie er seine Stiefel anzog.
Endlich war er fertig. Ein gegrunztes Signal von Dalziel, und sie wandten ihren Blick dem ansteigenden Hang zu und machten sich auf den Weg zu ihrem Rendezvous auf Beulah Height.