Sie nahm einen Schluck von ihrem Champagner. Irgendwo tief in ihr erwachte ein Frösteln, aber sie wollte es nicht wahrnehmen, wollte nicht, daß es sich ausbreitete.
«Du siehst viel besser aus als noch vor ein paar Tagen«, meinte sie.
«Wie gesagt«, fing er an, und sie unterbrach ihn:»Ja. Ich weiß. Es geht dir auch besser.«
Sie schwiegen ein paar Minuten.
Unvermittelt sagte Leon:»Meine Herzschmerzen sind weg.«
«Du hattest oft Herzschmerzen?«
«Immer häufiger und immer stärker in den letzten Jahren, ja. Es begann mich wirklich zu belasten. Ich rechnete mir schon aus, daß ich irgendwann an einem Infarkt sterben würde, und das war alles andere als eine erfreuliche Vorstellung. Dabei habe ich nie ungesund gelebt, ich habe kein Übergewicht, ich rauche nicht, und wenn nicht gerade meine ganze Familie ermordet wird, trinke ich auch kaum jemals einen Schluck zuviel. Aber der Streß…«
Er atmete tief durch.»Der Streß, der mit dem Tag begann, an dem ich Patricia heiratete. Diese unglückliche Ehe, dieser nicht enden wollende Druck… Es ist, als wäre ein Gewicht von mir genommen. Als könne mein Herz wieder frei schlagen.«
Jessica legte ihm die Hand auf den Arm.»Ich verstehe dich«, sagte sie, obwohl sich das Frösteln in ihr verstärkte,»ich verstehe dich, aber du solltest… du solltest nicht zu anderen so sprechen.«
«Weshalb nicht?«
«Weil es… weil es eigenartig klingt. Deine Frau und deine beiden Töchter sind bestialisch ermordet worden, und du scheinst… ja, irgendwie erleichtert. Befreit. Ich kann durchaus nachvollziehen, was da in dir vorgeht, aber…«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Sie fragte sich, ob sie es wirklich nachvollziehen konnte.
«Ich spreche sowieso mit niemandem über diese Dinge«, sagte Leon.»Meine beiden besten Freunde sind tot. Es gibt sonst niemanden, den ich so dicht an mich heranlassen würde.«
«Entschuldige meine Einmischung«, sagte Jessica.
Er stand auf.»Wie wäre es, wenn du hier in Ruhe deinen Champagner trinkst und ein wenig in den Abend hinaus träumst? Ich kümmere mich so lange um das Essen!«
«Du sollst doch nicht kochen für mich.«
«Es ist alles vorbereitet. Da mußt du jetzt durch.«
Er lachte. Ehe er den Balkon verließ, legte er ihr einen Moment lang die Hand auf die Schulter.
Sie hatte nicht gewußt, daß Leon kochen konnte. Patricias Schilderungen hatte man immer nur entnehmen können, daß sie für das leibliche Wohl der Familie gesorgt hatte, auf die für sie typische, disziplinierte Weise: fettarm, vitaminreich, gesund. Von Leon war nie eine Klage gekommen, aber auch nie eine Andeutung, daß er selbst das Talent hatte, einmal etwas Besonderes für sie alle zuzubereiten. Nun zauberte er eine Köstlichkeit nach der anderen auf den Tisch, mit, wie es schien, leichter Hand und ganz nebenbei, und Jessica, die in ihrem Arbeitseifer das Mittagessen ausgelassen hatte, merkte, wie hungrig sie war. Sie aß und aß, bis sie meinte zu platzen, und sich nach dem Dessert mit einem Seufzer in ihrem Stuhl zurücklehnte.
«O Gott, Leon, das war unglaublich«, sagte sie.»Aber wenn ich jetzt noch einen Bissen zu mir nehme, kann ich mich für drei Tage nicht mehr rühren. Warum hast du nie erzählt, daß du ein begnadeter Koch bist?«
«Es gibt noch Käse. Du darfst noch nicht aufhören!«
«Vorsicht!«
Sie lachte.»Nachher wirst du mich nicht mehr los, weil ich es nicht mehr schaffe, mich hochzuhieven.«
Er lächelte. Er hatte ein Windlicht auf die Balkonbrüstung gestellt, das sein Gesicht nur undeutlich erhellte, aber Jessica konnte das Blitzen in seinen Augen sehen.
«Warum sollte ich dich loswerden wollen?«fragte er.
Sein Tonfall verunsicherte sie, aber sie versuchte, möglichst unbefangen zu antworten.»Weil deine Wohnung viel zu klein ist für einen Übernachtungsgast.«
Sie sah, daß er den Mund öffnete, und fügte schnell hinzu:»Barney ist allein daheim und muß irgendwann noch mal raus. Ich sollte jetzt bald gehen.«
«Hast du ihn deshalb zu Hause gelassen?«fragte Leon.»Ich habe mich schon gewundert.«
Er wollte ihr Wein nachschenken, aber sie wehrte ab.
«Was meinst du mit deshalb?«
«Um auf gar keinen Fall in Versuchung zu kommen, hierzubleiben.«
«In die Versuchung wäre ich sowieso nicht gekommen.«
«Nein?«
«Nein.«
Sie griff nach ihrer Handtasche.»Ich sollte…«
«Weißt du nicht, daß es unhöflich ist, direkt nach dem Essen zu gehen?«
«Leon, ich…«
Sie wollte weg. Auf einmal hatte sie das Gefühl, Teil einer mit Bedacht geplanten Inszenierung zu sein. Die Einladung, der warme Maiabend, das flackernde Windlicht, der Champagner, das Essen. Der gutaussehende Mann, der plötzlich nichts mehr mit dem Leon gemein hatte, der früher einfach nur ein guter Freund, ein netter Kerl gewesen war. Und der jetzt ein neues Leben wollte, viel zu schnell, viel zu radikal, aber vielleicht mit einer gewissen Berechtigung, weil jedes Verweilen im alten Leben, und sei es nur eine Sekunde zu lang, das mühsam errichtete Gerüst, mit dessen Hilfe er das Dasein ertrug, zum Einstürzen bringen konnte.
«Jessica«, sagte Leon,»laß mich ganz offen sein: Ich habe über uns nachgedacht. Uns beide verbindet das gleiche Schicksal. Wir haben die Menschen, die uns am nächsten standen, durch ein schreckliches Verbrechen verloren, und aus den Trümmern, die geblieben sind, müssen wir unser Leben neu errichten. Wir sind zu jung, um dauerhaft allein zu bleiben, aber wir können nie einen Partner finden, der wirklich versteht, was wir durchlebt haben. Uns ist etwas zugestoßen, das nicht zu den Dingen gehört, die Menschen üblicherweise zustoßen.
Neulich habe ich ja schon versucht, dir das zu erklären, erinnerst du dich? Ich meine, es gibt Geldsorgen und Probleme mit den Kindern und Schwierigkeiten in der Partnerschaft, aber wen — außer mir und Evelin natürlich — kennst du schon, der Teil eines solchen Verbrechens war oder ist? In gewisser Weise hat jener Tag in Stanbury uns aus der Mitte der Gesellschaft hinauskatapultiert. Wir sind nicht mehr die, die wir waren, aber wir sind auch nicht mehr da, wo die anderen sind.«
Sie wußte, daß er auf gewisse Weise recht hatte, gleichzeitig meinte sie zu fühlen, daß sie nicht zulassen durfte, was er da in großen schwarzen Lettern vor sie hinmalte. Dr. Wilbert hatte sie als ein Verbrechensopfer bezeichnet, aber letztlich akzeptierte sie den Status als Opfer erst dann, wenn sie die Ausgrenzung aus der Gesellschaft anerkannte, die Leon für sich selbst offenbar als zwangsläufig und unabwendbar hinnahm. Und das würde sie nicht tun. Niemals. Nicht nur wegen des Kindes, das sie erwartete. Sondern auch, um ihr eigenes Überleben zu sichern.
Sie stand auf. Auch Leon erhob sich. Er stand so, daß sie ihn hätte zur Seite schieben müssen, wenn sie den Balkon verlassen wollte. Sie hielt sich an ihrer Handtasche fest wie ein unsicheres Schulmädchen, das nicht weiß, wohin es mit seinen Händen soll.
«Ich glaube, daß jeder von uns beiden eine andere Art hat, mit dem Geschehenen fertig zu werden«, sagte sie,»und das ist keine Frage von falsch oder richtig. Es hat nur damit zu tun, daß wir verschiedene Menschen sind. Versuche nicht, mir deine Art überzustülpen, Leon. Ich muß meine eigene finden.«
«Ich wollte dir nichts überstülpen«, sagte Leon hastig,»ich wollte nur… ich dachte, es sind Fakten, die ich aufliste, und daraus ergeben sich Perspektiven für uns, die… nun, ich rede ziemlichen Blödsinn, was?«
Er schüttelte den Kopf, als wolle er sich aus dem Geflecht verwirrender Gedanken befreien.»Ich wollte einfach sagen, daß ich dich sehr mag, Jessica. Daß ich mir vorstellen könnte, daß wir den Neuanfang, der ja für uns beide notwendig ist… daß wir den zusammen probieren?«
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