«Vielleicht ist er gar nicht gefallen«, meinte Phillip,»vielleicht hat ihn jemand hineingeworfen. Ich nehme an, hier ist es so, wie überall auf dem Land: Die Bauern entledigen sich des unerwünschten Nachwuchses auf eine sehr brutale Art.«
«Man sollte das mit ihnen auch so machen«, sagte Jessica wütend,»damit sie wissen, wie sich Ertrinken anfühlt! Zum Glück scheint er's ja ganz gut überstanden zu haben.«
«Was machen wir jetzt mit ihm?«
Sie zuckte mit den Schultern.»Wollen Sie ihn haben?«
Phillip hob abwehrend beide Hände.»O Gott, nein! Sie müßten das Loch sehen, in dem ich in London hause. Ich fürchte, ich dürfte da gar keinen Hund halten!«
«Also nehme ich ihn mit. Wir können ihn ja nicht einfach hier sitzen lassen.«
«Nein. Aber man könnte ihn in ein Tierheim bringen.«
Als wüßte der Hund, daß es um sein Schicksal ging, hob er wieder den Kopf. Er sah Jessica und Phillip aus sehr ernsten, großen Augen an und wedelte zaghaft mit dem Schwanz.
«Nein«, entschied Jessica,»Tierheim kommt nicht in Frage. Er bleibt bei mir. Es ist schließlich kein Zufall, daß wir einander begegnet sind.«
«Nein?«
«Nein. Ich glaube nicht an Zufälle.«
Er lächelte amüsiert.»Ein interessanter Gedanke. Dann ist unsere Begegnung aber auch kein Zufall.«
Jessica erhob sich, klopfte Gras und Erde von ihrer Hose und nahm dann den kleinen Hund auf den Arm. Er schien inzwischen sicher, daß ihm nichts geschehen würde, denn er wehrte sich nicht, sondern kuschelte sich zurecht und seufzte zufrieden.
«Wir machen uns jetzt auf den Heimweg«, sagte Jessica, ohne auf Phillips letzte Bemerkung einzugehen. Mit angewidertem Gesichtsausdruck schlüpfte sie in ihre Schuhe, die dabei vor Nässe leise quietschten.»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Mr. Bowen. Kommen Sie doch mal bei uns vorbei und besuchen Sie den Kleinen.«
«Das werde ich sicher tun«, versprach Phillip. Er war ebenfalls aufgestanden.
Der Wind wehte ihm die Haare ins Gesicht.»Ja«, wiederholte er,»ganz sicher.«
Jessica hatte den Eindruck, daß in seinen letzten Worten ein Unterton mitgeschwungen hatte.
Auf dem Heimweg vergaß sie jedoch, darüber nachzudenken.
Ricardas Tagebuch
15. April. Es ist etwas Wundervolles geschehen!
Ich habe Keith getroffen! Heute abend im Dorf. Ich bin wieder nicht zum Abendessen gegangen, weil es mir wirklich total stinkt, mit dieser falschen Truppe zusammenzusitzen. Immer machen sie auf gute Laune und auf Was-mögen-wir-uns-doch-alle-so-sehr, und nichts davon stimmt. Rein gar nichts!
(Papa macht Ärger. Wenn ich morgen nicht zum Abendessen da bin, wird er ungemütlich, hat er gesagt! Aber mit Drohungen kriegt er mich schon gar nicht klein!)
Ich bin zu Fuß ins Dorf gegangen. Da läuft man gut eine halbe Stunde. Evelin, die Arme, Dicke, jammert immer über den weiten Weg, aber mir macht er nichts aus. Ich bin gut trainiert. Inzwischen finde ich es super, daß Mama nie lockergelassen hat mit meinem Sportprogramm. Vor allem Basketball macht mir richtig Spaß. Und ich hab eine echt tolle Kondition!
Ich hab mich im Dorf auf so einen Blumenkübel vor dem Gemischtwarenladen gesetzt, denn da treffen sich oft die Jugendlichen. War aber erst niemand da. So kurz vor Ostern haben sicher die meisten Ferien und fahren auch unter der Woche abends nach Leeds rüber oder so. War aber nicht schlimm, ich fand's schön, mal für mich zu sein. Was mich am meisten nervt, sind ja immer Diane und Sophie. Die sind so zum Kotzen, das kann ich gar nicht ausdrücken. Die sind heute mindestens schon so gräßlich wie ihre Mutter, und das heißt, wenn sie älter werden, überholen sie Patricia glatt noch. Schöne Scheiße!
Und dann kam er!!!
Ich habe ihn zuerst gar nicht bemerkt. Hatte die Augen zu, den Kopf zurückgelehnt, und habe so vor mich hingeträumt. Auf einmal hält ein Auto neben mir, und ich höre die Stimme von Keith.
«He, Kleines«, hat er gesagt. So ein Witz, ich bin echt nicht klein. Schon einsfünfundsiebzig groß, mit fünfzehn Jahren! Aber Keith ist bestimmt einsneunzig, für den ist wohl jeder klein. (Obwohl ich ganz, ganz doll hoffe, daß er keine andere» Kleines «nennt!)
Er sah so was von gut aus! Ziemlich braun gebrannt, und eine sehr schicke Sonnenbrille hatte er auf. Er trug ein Jeanshemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine tolle Uhr am Handgelenk. Er hat unheimlich kräftige Handgelenke, und die sind auch ganz braun. Ich mag seine dunklen, lockigen Haare und seine grünen Augen.
Mir war ganz schwindelig, und ich glaube, ich bin ziemlich rot geworden.»Hallo, Keith«, habe ich gesagt,»wie geht's dir?«
«Gut. Und dir?«
«Auch. Danke.«
«Steig doch ein«, sagte er,»wir fahren irgendwohin und quatschen ein bißchen.«
Ich hatte wacklige Beine, als ich einstieg. Und ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Keith fuhr los. Ich weiß gar nicht mehr genau, worüber wir alles geredet haben beim Fahren. Ich glaube, ich habe ihm vom Basketball erzählt und davon, wie mich Patricia, Diane und Sophie nerven. Keith hat gelacht, als ich Diane in ihrer affigen Art nachgemacht habe. Und dann hat er gesagt, daß mein Englisch schon wieder viel besser geworden ist, gar nicht mehr soviel Akzent, und daß ich mich toll ausdrücken kann. Mir ist schon wieder ganz schwindelig geworden. Wenn er wüßte, daß ich wie verrückt Englisch lerne zu Hause! Mein Englischlehrer ist ja auch schon ganz perplex, weil ich mir auf einmal soviel Mühe gebe und so gut geworden bin.
Jedenfalls sind wir aus dem Dorf rausgefahren, ein Stück landeinwärts, bis zu einem verlassenen Gehöft draußen im Hochmoor. Ich war dort vorher noch nie gewesen, aber Keith sagte, das sei ein Platz, an den sei er oft gekommen, als er noch jünger war und zur Schule ging.
«Hier habe ich meine erste Zigarette geraucht«, erzählte er,»und hier kam ich her, wenn ich Krach mit meinen Eltern hatte oder Liebeskummer, oder einfach nur so, um alleine zu sein.«
«Wolltest du auch heute abend hierher?«fragte ich.
«Nein. Ich wollte nach Leeds. Mal sehen, wo was los ist. Aber mit dir…«, er schaute mich ganz merkwürdig an,»…mit dir wollte ich lieber alleine sein.«
Der Hof ist eine ehemalige Schaffarm, aber der letzte Besitzer ist schon lange tot, und seitdem verfällt alles. Das Haus ist mit Brettern vernagelt, da kann man gar nicht rein, aber es gibt eine Scheune, die ist noch ziemlich in Ordnung. Man konnte sehen, daß Keith öfter herkommt, denn in einer Ecke hat er einen ausrangierten Sessel und ein Sofa stehen, und es stehen ganz viele leere Flaschen da, in deren Hälse er Kerzen gesteckt hat. Ich mußte an die Scheune denken, in der wir im letzten Sommer waren, auf dem Hof von einem Freund, wo uns dann der Vater des Freundes überrascht hat. Der hat ja damals einen Riesenaufstand gemacht, dabei war gar nichts passiert. Wir haben nebeneinander im Heu gelegen, und Keith hat meine Hand gehalten und mir Geschichten erzählt, aber ich weiß, daß es nachher im Dorf hieß, wir hätten» uns im Heu gewälzt«. Zum Glück ist nichts davon an meinen Vater
gekommen. Natürlich würde Keith nicht immer nur meine Hand halten und mir Geschichten erzählen wollen, und deshalb war ich ziemlich nervös. Ich bin noch nie von einem Jungen geküßt worden, und das andere habe ich schon gar nicht gemacht. Keith ist neunzehn und bestimmt unheimlich erfahren.
Wir saßen dann eine Weile nebeneinander auf dem Sofa. Keith hat die Kerzen angezündet, und es war eine ganz romantische Stimmung. Aber es wurde ziemlich kalt, und als er das merkte, legte er den Arm um mich und zog mich ganz eng an sich.
«Du bist anders als andere Mädchen«, sagte er,»ich bin gern mit dir zusammen.«
Und dann hat er mich geküßt!
Es war ganz toll, es war überhaupt nicht schlimm, wie ich immer gedacht hatte. Seine Lippen waren ganz zart auf meinen, und seine Haut roch so gut, und seine Arme hielten mich ganz fest. Er schmeckte ein bißchen nach Zigarette, und es war der wundervollste, der absolut wundervollste Moment in meinem ganzen bisherigen Leben!!!
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