»Warte hier«, sagte Dóra, als sie in die Einfahrt zu ihrem Haus bogen. Sie rannte zum Haus. Im Laufen zog sie ihren Schlüssel hervor. Sie klingelte mit der linken Hand, um Gylfi wissen zu lassen, dass sie da sei, steckte mit der rechten Hand den Schlüssel ins Türschloss und öffnete. »Gylfi«, rief sie keuchend.
»Hi Mama.« Sóley kam ihr entgegengelaufen, ein einziger Sonnenschein. Falls etwas passiert war, hatte sie davon überhaupt nichts mitbekommen.
»Hallo mein Engel. Wo ist dein Bruder?« Dóra drängte sich an Sóley vorbei und schaute sich nach ihrem Sohn um.
»Er ist weggegangen. Ich hab einen Zettel für dich«, erklärte Sóley und zog einen Schnipsel aus ihrer Hosentasche.
Dóra riss ihr den Zettel aus der Hand. Während sie ihn auseinanderfaltete, fragte sie: »Wann ist er gegangen? Und wohin?«
»Er ist eben erst gegangen. Vor einer Stunde.« Sóley kannte sich noch nicht richtig mit der Uhr aus. Gylfi hätte demzufolge vor einer Sekunde oder vor zwei Wochen das Haus verlassen haben können. »Er ist dahin gegangen, es steht da drauf.« Ihr kleiner Finger zeigte auf den Zettel, so als wolle sie einer Verwechslung mit anderen Papierschnipseln zuvorkommen.
»Komm mit.« Die Adresse war in Seltjarnarnes, nicht weit entfernt. »Wir machen mit dem Onkel eine Autofahrt.« Sie stopfte Sóley in Gylfis Daunenjacke, zwängte sie in ihre Gummistiefel und schob sie aus dem Haus. Dóra riss die Hintertür des Jeeps auf und half ihrer Tochter mit schnellen Handbewegungen hinein. Dann sprang sie selbst auf den Beifahrersitz und bat Matthias, loszufahren. »Matthias, das ist meine Tochter Sóley. Sie spricht nur Isländisch. Sóley, das ist Matthias. Er kann kein Isländisch, aber ihr werdet bestimmt gute Freunde.«
Matthias drehte sich gemächlich um und lächelte dem kleinen Mädchen zu. »Süß wie die Mama«, sagte er und steuerte den Wagen Dóras wilden Gebärden folgend um eine Ecke. »Auch modisch derselbe Geschmack.«
»Hier — und dann rechts. Ich suche die Nummer 45«, erklärte Dóra, immer noch nervös. Kurz darauf kam das Haus ins Blickfeld. Das musste es sein, denn sie sahen Gylfi über den Eingangspfad auf das Haus zulaufen. »Da, da«, rief Dóra außer Atem und zeigte auf ihren Sohn. Matthias gab Gas und parkte dann auf dem Gehsteig vor dem Haus — die Einfahrt war bereits besetzt. Dóra kannte das Auto; es gehörte Hannes. Dóra stieß die Tür auf, sobald der Wagen zum Halten gekommen war. »Sóley, du wartest hier mit dem lieben Matthias.«
Gylfi drehte sich erst um, nachdem seine Mutter mehrmals seinen Namen gerufen hatte. Nun stand er mit hängenden Schultern an der Haustür und betätigte die Türklingel. »Hi«, sagte er bedrückt.
»Ich hab mich verspätet«, entschuldigte sich Dóra keuchend. Sie legte ihrem Sohn die Hand auf die Schulter. »Was ist eigentlich los, Liebling? Wer wohnt denn hier?«
Gylfi schaute sie an. Sein Gesichtsausdruck zeugte von absoluter Verzweiflung. »Sigga ist schwanger. Sie ist erst in der zehnten Klasse. Ich bin der Vater. Hier wohnen ihre Eltern.«
Als er seinen Satz beendet hatte, ging die Haustür auf. Dóra erstarrte. Aus irgendwelchen Gründen konnte sie ihren Blick nicht von dem iPod lösen, der um den Hals ihres Sohnes baumelte, vielleicht, weil sie ihn gerade zufällig angeschaut hatte, als die Welt zusammengebrochen war. Wenn der Mann, der die Tür geöffnet hatte, nicht dunkelrot vor Wut gewesen wäre, hätte er bestimmt über ihren dämlichen Gesichtsausdruck gelacht. »Hallo«, sagte der Mann mittleren Alters zu ihr, blickte dann zu Gylfi, kniff voller Verachtung die Augen zusammen und sagte: »Grüß dich.« In diesen beiden Worten verbarg sich jedoch alles andere als gute Wünsche. Zwischen den Zeilen war zu lesen: Geh zum Teufel; du hast die junge, unschuldige Tochter eines ehrbaren Mannes verführt.
Aus alter Gewohnheit siegte die Höflichkeit und Dóra versuchte zu lächeln. »Grüß dich, ich heiße Dóra. Gylfis Mutter.«
Der Mann schnaubte, bat sie aber dennoch hinein. Unter den wachsamen Augen des Mannes zogen sie ihre Schuhe aus. Der Mann baute sich bedrohlich im Türrahmen des Flurs auf.
»Vielen Dank«, sagte Dóra zur Luft, als sie an dem Mann vorbeiging. Sie umfasste die Schultern ihres Sohnes mit beiden Händen und führte ihn so vor sich her — falls der Mann zum Angriff übergehen würde. Sie kamen geradewegs in ein großes, offenes Wohnzimmer, in dem sich drei Personen befanden; Hannes, den Dóra an seinem Hinterkopf erkannte, eine Frau in Dóras Alter, die sich erhob, als sie sich näherten, und ein junges Mädchen, das auf einem Stuhl saß und niedergeschlagen den Kopf hängen ließ.
»Ach, da seid ihr ja endlich.« Die Frau schrie fast mit schriller Stimme. Guter Gott, lass das Kind meine tiefe Altstimme erben, bat Dóra lautlos. Sie versuchte erneut, ein Lächeln herauszupressen. Ihre Hände wichen nicht von den Schultern ihres Sohnes.
»Hannes«, sagte Dóra und sah zu ihrem Ex-Mann. Sie versuchte, ihm zu signalisieren, er möge seine Pflicht tun und ihr erlauben, sich in Luft aufzulösen. Stattdessen schaute er sie streng an. »Grüß dich, Sigga«, sagte Dóra so freundlich wie möglich zu dem jungen Mädchen, das daraufhin aufschaute. Ihre Augen waren verweint und zwei große, schwere Tränen schimmerten in den Augenwinkeln.
Gylfi löste sich endlich aus Dóras Griff und ging zu ihr. »Sigga!«, ächzte er, offenbar gerührt, seine Geliebte so mitgenommen zu sehen.
»Oh, wie großartig!«, krähte Siggas Mutter. »Romeo und Julia. Ich kotz gleich.«
Dóra drehte sich blitzschnell zu ihr. Wut kochte in ihr hoch. Diese beiden Jugendlichen hatten einen Riesenfehler begangen und die Frau besaß die Frechheit, ihr Schicksal zu verspotten, obwohl es sich um ihre eigene Tochter handelte. Dóra verlor nicht oft die Nerven, aber es kam vor. »Entschuldige bitte, aber das Ganze ist schon schwierig genug — mach es nicht durch deinen Sarkasmus noch schlimmer.« Hannes sprang auf die Füße und Dóra spürte, wie er sie aufs Sofa zog, ohne dass sie dagegen protestieren konnte. Die Frau rang nach Luft — ihre Augen blitzten vor Wut.
»Daher hat dein Sohn also seine Manieren«, bemerkte sie und setzte sich, mit geradem Rücken wie eine Ballerina. Ihr Mann zog es vor, stehen zu bleiben, und von seiner Position mitten im Zimmer überragte er die anderen wie ein riesiger Eiszapfen.
»Mama!«, stieß Sigga schluchzend hervor. »Hör doch auf!«
Dóra fand das Mädchen, ihre zukünftige Schwiegertochter, sofort sympathisch.
»Was soll dieses verdammte Theater«, tönte der Eiszapfen.
»Wenn wir nicht in der Lage sind, wie kultivierte Menschen darüber zu sprechen, können wir es gleich bleiben lassen.«
Hannes streckte sich. »Das sehe ich genauso. Versuchen wir, sachlich zu bleiben.«
Die Frau schnaubte erneut.
»Ja«, begann Hannes ernst, »ich sollte vielleicht sagen, dass mich das alles sehr traurig macht und ich mich im Namen meiner Familie für das Verhalten meines Sohnes und den Schmerz, den er euch bereitet hat, von ganzem Herzen entschuldigen möchte.«
Dóra atmete tief ein, um Hannes’ Worte zu verarbeiten und ihn nicht auf der Stelle umzubringen. Dann wendete sie sich ihm seelenruhig zu. »Erstens, nur damit das klar ist, sind wir keine Familie. Ich, mein Sohn und meine Tochter sind eine Familie. Du bist ein bedauernswerter Wochenendvater, der, anders als die meisten anderen, nicht hinter seinem eigenen Sohn steht, wenn’s drauf ankommt.« Sie löste ihren Blick von Hannes und merkte, wie die anderen sie anstarrten. Das Gesicht ihres Sohnes drückte Stolz aus. Sie wiederholte noch einmal: »Nur, damit das klar ist.«
Hannes holte neben ihr tief Luft, schaffte es aber nicht, etwas zu sagen, da ihm die andere Mutter zuvorkam. »Wie passend. Ich möchte die Gelegenheit ergreifen und dich darauf hinweisen, dass dein Sprössling, euer oder von mir aus dein Sohn, schon sehr bald …« Die schauspielerischen Fähigkeiten waren in dieser Familie offenbar breit gestreut. Die Frau verlieh ihren Worten eine dramatische Betonung, indem sie mit einer übertriebenen Geste auf Gylfi zeigte, »… schon sehr bald genauso ein bedauernswerter Wochenendvater sein wird wie dein Ex-Mann.«
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