»Wir müssen unbedingt noch mal mit Halldór sprechen. Oder am besten mit allen. Wer weiß, ob wir sie noch einmal dazu überreden können.«
Matthias lächelte Dóra zu. »Jedenfalls sind wir nicht völlig auf dem falschen Dampfer. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Das Einzige, was noch unklar ist, ist die Sache mit dem Geld. Was ist damit passiert?«
Dóra zuckte die Achseln. »Vielleicht hat Harald die dunkle Handschrift damit gekauft. Das würde mich nicht wundern.«
Matthias dachte eine Weile über ihre Worte nach. »Kann sein. Ich bezweifle es aber. Die Handschrift ist im Besitz der Königlich Norwegischen Bibliothek. Das ist auch der Grund, warum die Polizei nichts über die Rune herausgefunden hat. Sie ist kaum bekannt, eigentlich kennt sie hierzulande niemand, außer eben Páll, der im Ausland ist. Deshalb wurde er nie dazu befragt.«
»Aber vielleicht hat Harald das Geld ins Land geholt, weil er diesem Páll das Zauberbuch abkaufen wollte, ist dann aber wegen des Geldes von einem seiner angeblichen Freunde ermordet worden. Sie könnten doch das Geld gestohlen haben, oder? Es wurden schon für kleinere Summen Morde begangen.«
Matthias stimmte ihr zu. Er schaute auf die Uhr und sah Dóra nachdenklich an. »Die Maschine aus Frankfurt ist um halb vier gelandet.«
»Verdammt«, rutschte es Dóra heraus. »Ich kann jetzt nicht mit Frau Guntlieb sprechen, es geht einfach nicht. Wenn sie mich nach meinen eigenen Kindern fragt, was soll ich denn dann sagen? Ja, liebe Frau Guntlieb, mein Sohn ist außerordentlich frühreif — habe ich Ihnen schon erzählt, dass er Vater wird? «
»Glaub mir, sie interessiert sich nicht für deine Kinder«, sagte Matthias ruhig.
»Es ist auch nicht gerade leichter, über ihren Sohn zu reden. Wie kann ich ihr ins Gesicht schauen und ihr erzählen, dass Harald einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, um ihr das Leben zur Hölle zu machen und sie am Ende ins Grab zu bringen?« Dóra suchte Matthias’ Blick in der Hoffnung auf eine erbauliche Antwort.
»Ich überbringe ihr die Neuigkeiten, mach dir keine Sorgen. Du kommst trotzdem nicht darum herum, mit ihr zu reden. Wenn nicht heute, dann morgen. Die Frau hat den langen Weg auf sich genommen, um mit dir zu sprechen, das weißt du doch. Als sie mir gesagt hat, sie will dich persönlich kennen lernen, klang ihre Stimme viel entspannter als je zuvor. Du brauchst keine Angst zu haben.«
In Dóras Ohren klangen seine Worte nicht sehr überzeugend. »Rufen sie uns an oder wie soll das vonstatten gehen?«
»Sie rufen an, wenn sie im Hotel sind.« Er schaute auf die Uhr. »Wahrscheinlich bald. Ich kann aber auch anrufen, wenn du möchtest.«
Uff. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Dóra konnte sich nicht entscheiden. »Ja, ruf an«, sagte sie plötzlich, nur um im nächsten Moment hinzuzufügen: »Nein, tu’s nicht!«
Bevor sie ihre Meinung noch einmal ändern konnte, klingelte Matthias’ Handy. Dóra stöhnte, als er das Telefon in die Hand nahm, sie anschaute und sagte: »Das sind sie.« Er drückte auf die Antworttaste. »Hallo, hier ist Matthias.«
Dóra konnte nicht viel verstehen, hörte nur den fernen Klang einer Stimme am anderen Ende der Leitung. Das Gespräch wirkte sehr oberflächlich: »Wie war der Flug?« »Wie bedauerlich.« »Ihr habt doch den Namen des Hotels, nicht wahr?« und so weiter. Das Telefonat endete mit Matthias Worten: »Bis später. Auf Wiederhören.« Er schaute zu Dóra und lächelte. »Du hast Glück, alte Großmutter.«
»Wieso?«, fragte Dóra gespannt. »Ist sie nicht mitgekommen?«
»Doch, sie ist mitgekommen. Aber sie hat Migräne und möchte das Treffen mit dir auf morgen verschieben. Das war Elisa; sie sind mit dem Taxi unterwegs zum Hótel Borg. Elisa möchte uns in einer halben Stunde dort treffen.«
Die junge Frau sah ihrer Mutter überhaupt nicht ähnlich, war aber ebenso attraktiv. Sie hatte den dunklen Teint ihres Vaters geerbt, und ihr gesamtes Erscheinungsbild war dezent: das lange, glatte Haar zum Zopf gebunden, elegante, schwarze Hose und schwarze Seidenbluse. Der einzige sichtbare Schmuck war ein Diamantring am Ringfinger ihrer rechten Hand, derselbe Ring, den Dóra auf dem Küchenfoto gesehen hatte. Elisa war sehr schlank und als Dóra ihr die Hand schüttelte, kam sie ihr fast zerbrechlich vor. Matthias wurde überschwänglich begrüßt; Elisa umarmte ihn und sie gaben sich Küsschen auf die Wange.
»Wie geht es dir?«, fragte er, nachdem er Elisa wieder aus seiner Umarmung freigegeben hatte. Dóra fiel auf, dass er sie nicht siezte, was in Anbetracht seiner Position als Angestellter der Familie zu erwarten gewesen wäre. Matthias stand diesen Leuten offenbar näher oder hatte eine höhere Position in der Firma, als sie gedacht hatte.
Elisa zuckte mit den Schultern und lächelte schwach. »Nicht besonders«, sagte sie. »Die letzte Zeit war nicht leicht.« Sie wendete sich an Dóra. »Ich wäre schon viel früher gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass Sie mit mir sprechen wollen. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass mein Besuch bei Harald wichtig sein könnte.«
Dóra fand diese Einstellung sonderbar; schließlich hatte der Besuch kurz vor dem Mord stattgefunden. Aber sie sagte nur: »Jetzt sind Sie ja da.«
»Ja, als Matthias anrief, hab ich sofort ein Flugticket gekauft. Ich möchte Ihnen helfen«, erklärte sie und es klang überzeugend. Dann fügte sie hinzu: »Und meine Mutter auch.«
»Gut«, sagte Matthias unnötig laut. Vielleicht fürchtete er, Dóra könnte etwas Unpassendes sagen.
»Sollen wir uns setzen?«, fragte Elisa. »Darf ich Sie zu einem Kaffee oder einem Glas Wein einladen?« Dóra hatte beschlossen, in Zukunft auf Alkohol zu verzichten, und nahm eine Tasse Kaffee. Matthias und Elisa bestellten Weißwein.
»Also dann«, sagte Matthias und ließ sich in seinen Sessel sinken. »Was kannst du uns über den Besuch erzählen?«
»Sollen wir nicht auf den Wein warten? Ich glaube, den brauche ich jetzt«, entgegnete Elisa und schaute Matthias fragend an.
»Aber selbstverständlich«, antwortete er, beugte sich vor und drückte ihren Arm, der auf der Sofalehne ruhte.
Elisa schaute Dóra entschuldigend an. »Ich kann das nicht genau erklären, aber es fällt mir wirklich schwer, über diesen Besuch zu sprechen. Ich hab damals die ganze Zeit nur über mich geredet. Wenn ich gewusst hätte, dass ich Harald nie wieder sehen würde, hätte ich ihm gesagt, wie viel er mir bedeutet.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Aber ich hab’s nicht getan und jetzt ist es zu spät.«
Die Bedienung kam mit den Getränken und sie stießen an. Dóra nippte an ihrem Kaffee und beobachtete die beiden beim Leeren ihrer Weingläser. Sie würde bei der nächsten Gelegenheit wieder mit dem Trinken anfangen, wollte aber jetzt im Nachhinein keinen Wein mehr bestellen.
»Am besten erzähle ich Ihnen, warum ich Harald besucht habe«, erklärte Elisa, nachdem sie ihr Glas abgestellt hatte. Dóra und Matthias nickten. »Wie du weißt, Matthias, habe ich zurzeit große Probleme mit meinen Eltern. Sie möchten, dass ich Betriebswirtschaft studiere und dann in der Bank anfange. Harald war der Einzige, der mir immer gesagt hat, ich soll tun, wozu ich Lust habe — Cello spielen.«
»Ich verstehe«, sagte Dóra, obwohl sie eigentlich gar nichts verstand.
»Harald hat gesagt, ich soll mich nicht um Papa und Mama scheren und weiterspielen. Es gäbe an jeder Ecke irgendwelche Deppen mit Krawatte, die eine Bank leiten könnten, aber die wenigsten hätten die Begabung, ein Instrument so meisterhaft zu beherrschen.« Sie beeilte sich, hinzuzufügen: »Er hat ›Deppen mit Krawatte‹ gesagt, nicht ich.«
»Darf ich fragen, wofür Sie sich entschieden haben?«, fragte Dóra neugierig.
»Weiterzuspielen«, entgegnete Elisa mit verbitterter Stimme. »Und trotzdem habe ich mich für Betriebswirtschaft eingeschrieben und fange bald mit dem Studium an.«
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