»Dann ist dein Vater bestimmt glücklich«, bemerkte Matthias.
»Ja, vor allem erleichtert. In unserer Familie ist man selten wirklich glücklich. Und momentan schon gar nicht.«
»Elisa, wir haben E-Mails von Harald und eurem Vater gesehen. Die beiden haben sich anscheinend nicht besonders gut verstanden.« Dóra verstummte, fügte dann aber hinzu: »Außerdem haben wir triftige Gründe, anzunehmen, dass Haralds Verhältnis zu eurer Mutter alles andere als harmonisch war.«
Elisa trank ihr Glas leer, bevor sie antwortete. Sie schaute Dóra direkt in die Augen. »Harald war der beste Bruder, den man sich denken kann. Auch wenn er anders war als die meisten anderen Leute, besonders zum Schluss.« Sie streckte ihre Zungenspitze heraus und machte eine Handbewegung, um Haralds gespaltene Zunge anzudeuten. »Aber ich bin immer stolz auf ihn gewesen. Er war ein toller Mensch, und zwar nicht nur mir gegenüber. Er hat unsere Schwester auf Händen getragen; niemand konnte besser mit Behinderten umgehen als er.« Traurig betrachtete sie das auf dem Tisch stehende Weinglas. »Mama und Papa, sie … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … sie waren immer ungerecht zu ihm. Meine ersten Erinnerungen an meine Eltern sind voller Umarmungen, Liebe und Fürsorge, aber Harald kam darin nicht vor. Sie schienen ihn … ja, sie schienen ihn nicht ausstehen zu können.« Hastig berichtigte sie sich selbst. »Sie waren nie wirklich böse zu ihm oder so. Sie haben ihn einfach nicht geliebt. Ich weiß nicht, warum, falls es überhaupt einen Grund gibt.«
Dóra versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie unsympathisch ihr die Guntliebs waren. Sie musste den Mörder dieses armen Jungen finden. Auf einmal war Dóra auf das Treffen mit Haralds Mutter gespannt. »Ja«, sagte sie, um die Stille zu durchbrechen. »Sprechen wir am besten über Ihren Besuch bei Ihrem Bruder.«
Elisa lächelte erleichtert. »Wir haben nichts Besonderes unternommen, waren nur in der Blauen Lagune und haben eine heiße Quelle besichtigt. Ansonsten sind wir durch die Stadt gelaufen oder waren zu Hause, haben DVDs geguckt, gekocht oder uns erholt.«
Dóra fiel es schwer, sich Harald in der Blauen Lagune vorzustellen. »Welche Filme haben Sie sich denn angeschaut?«, fragte sie neugierig.
Elisa lächelte. »König der Löwen, auch wenn’s unglaubwürdig klingt.«
Matthias warf Dóra einen Blick zu und fragte Elisa: »Hat Harald dir erzählt, womit er sich gerade beschäftigte?«
Elisa sah nachdenklich aus. »Nicht viel. Er war gut drauf und fühlte sich offenbar sehr wohl in Island. Ich hab ihn zumindest selten so fröhlich gesehen. Vielleicht, weil er so weit von Mama und Papa weg war. Oder wegen eines Buches, das er gefunden hatte.«
»Ein Buch?«, fragten Dóra und Matthias gleichzeitig. »Was für ein Buch?«, sagte Matthias noch einmal.
Elisa wunderte sich über diese Reaktion. »Dieses alte Buch. Malleus Maleficarum. War es nicht in seiner Wohnung?«
»Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht mal, welches Buch du meinst«, sagte Matthias. »Hat er es dir gezeigt?«
Elisa schüttelte den Kopf. »Nein, er hatte es noch nicht.« Plötzlich verstummte sie. »Vielleicht wurde er ermordet, kurz bevor er es bekommen sollte.«
»Weißt du, ob er es irgendwo abholen wollte?«, fragte Matthias. »Hat er darüber was gesagt?«
»Nein«, antwortete Elisa. »Ich hab aber auch nicht danach gefragt — hätte ich das tun sollen?«
»Es ändert nichts«, entgegnete Matthias. »Aber hat er dir über dieses Buch etwas erzählt?«
Elisas Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Ja. Eine ziemlich tolle Geschichte. Wartet mal, wie war das noch gleich?« Sie dachte kurz nach, bevor sie weitersprach. »Du erinnerst dich doch bestimmt an die alten Briefe von Großvater?« Sie wendete sich an Matthias, der zustimmend nickte — die Briefe aus Innsbruck in dem Lederfutteral. »Harald war wie Großvater. Die Briefe haben ihn fasziniert, er hat sie immer wieder gelesen. Harald war davon überzeugt, dass der Verfasser der Briefe Kramer etwas Schreckliches angetan hatte, um seine Frau zu rächen.« Sie blickte zu Dóra. »Sie wissen doch, wer Kramer war, oder?«
Dóra nickte.
»Harald hat sich in den Kopf gesetzt, herauszufinden, was damals passiert ist. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass es unmöglich ist, nach fünfhundert Jahren etwas darüber auszugraben. Aber er war anderer Meinung. Die Kirche war ja in die Sache verwickelt und dort hat man viele Dokumente aufbewahrt. Harald gab jedenfalls nicht auf, hat sogar Geschichte studiert, um Zugang zu verschiedenen Schriftensammlungen zu bekommen, und durch die Sammlung seines Großvaters stand ihm natürlich reichlich Anschauungsmaterial zur Verfügung.«
»Er hat sich also gut mit seinem Großvater verstanden?«, fragte Dóra, obwohl sie wusste, dass die Antwort positiv ausfallen würde.
»Aber ja«, sagte Elisa. »Harald war oft bei ihm, sogar noch, als er schon im Krankenhaus war und im Sterben lag. Er war der absolute Lieblingsenkel unseres Großvaters. Sie konnten sich stundenlang mit dem Thema Hexenverbrennungen beschäftigen.«
»Und sein Studium, hat ihn das weitergebracht?«, fragte Dóra. »Hat er etwas entdeckt?«
»Ja«, antwortete Elisa. »Über die Uni in Berlin bekam er Zugang zur Bibliothek des Vatikans. Er ist nach seinem zweiten Studienjahr nach Rom gefahren und fast den ganzen Sommer da geblieben. Er hat ein Dokument gefunden, in dem Kramer von einem geplanten zweiten Angriff auf die Hexen von Innsbruck berichtet. Kramer behauptet darin, die Hexen hätten ihm ein Exemplar eines Buches gestohlen, an dem er gerade schrieb. Dieses Exemplar sei ihm äußerst wichtig, darin stünden Anweisungen, wie man Zauberformeln widerrufen und Hexen überführen könne. Daher wolle er das Buch um jeden Preis zurückhaben. Es ist nicht bekannt, ob Kramer noch einmal nach Innsbruck zurückkehrte. Harald war total aufgeregt und glaubte, den wertvollen Gegenstand gefunden zu haben, der Kramer weggenommen und zur Hölle geschickt werden sollte: ein Exemplar des Hexenhammers, die älteste Ausgabe dieses weltberühmten Buches, angeblich verziert und von Hand geschrieben.«
»Aber hat nicht der Dieb das Manuskript zur Hölle geschickt? So wurde es doch beschrieben, oder?«, fragte Dóra. »Dann muss es verbrannt worden sein.«
Elisa lächelte. »Im letzten Brief an den Bischof von Brixen war von einem Boten die Rede, der den Weg zur Hölle auf sich nehmen würde. Für diese Reise wurde die Hilfe der Kirche erbeten. Das Buch wurde also nicht verbrannt, jedenfalls nicht sofort.«
Dóra hob die Augenbrauen. »Ein Bote auf dem Weg zur Hölle? Klar. Klingt ja wie die natürlichste Sache der Welt.«
Matthias grinste. »Stimmt.« Er nahm einen Schluck Wein.
»Damals war das nicht so abwegig«, erklärte Elisa ernst. »Die Hölle wurde als realer Ort im Inneren der Erde angesehen. Und es gab einen Zugang, der sich in Island befinden sollte. Auf irgendeinem Vulkan, ich kann mich nicht an den Namen erinnern.«
»Hekla«, beeilte sich Dóra zu sagen, bevor Matthias versuchen würde, das Wort auszusprechen. Das war also der Grund — deshalb war Harald nach Island gekommen. Er hatte die Hölle gesucht. Und genau das waren die Worte gewesen, die er Hugi zugeflüstert hatte.
»Ja, genau«, sagte Elisa. »Dort sollte das Manuskript hingebracht werden. Jedenfalls glaubte Harald das. Er hat nach Quellen über die Reise dieses Boten gesucht und einen Hinweis darüber in den Kirchenannalen von Kiel aus dem Jahr 1486 gefunden. Da ist von einem Mann die Rede, der mit einem Brief des Bischofs von Brixen mit der Bitte um Unterkunft und Unterstützung auf dem Weg nach Island nach Kiel kam. Er sei zu Pferd gekommen und habe etwas bei sich gehabt, das er wie seinen Augapfel hütete, etwas Schwarzes, Dunkles. Ihm wurde das Sakrament verweigert, da er das Päckchen nicht aus der Hand geben wollte und damit die Kirche nicht betreten durfte. Der Mann verbrachte zwei Nächte in Kiel und setzte dann seinen Weg in den hohen Norden fort.«
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