»Und? Hat Harald etwas über den Ausgang dieser Reise herausbekommen?«, fragte Matthias.
»Nein«, antwortete Elisa. »Jedenfalls nicht direkt. Harald kam nach Island, nachdem er die Spur durch halb Europa verfolgt hatte. Das war am Anfang wohl ziemlich schwierig, aber irgendwann stieß er auf einen alten dänischen Brief, in dem von einem jungen Mann die Rede ist, der auf irgendeinem Bischofssitz, ich weiß nicht mehr, wo, an Masern starb. Und dieser Mann war auf dem Weg nach Island. Er kam nachts auf dem Bischofssitz an, schwer krank und in schlechter Verfassung, und starb wenige Tage später. Vor seinem Tod bat er jedoch den Bischof darum, das Päckchen nach Island bringen und in den Krater der Hekla werfen zu lassen — mit dem Segen des Bischofs von Brixen. Ein paar Jahre später forderte der dänische Bischof die katholische Kirche in Island in einem Brief auf, die Sache zu Ende zu bringen. Er werde das Päckchen einem Mann mitgeben, der auf dem Weg nach Island sei, um im Namen des Papstes für den Bau der Peterskirche in Rom Ablassbriefe zu verkaufen.«
»Und wurde das Manuskript denn nun in den Krater der Hekla geworfen?«, fragte Matthias.
»Harald hielt das für unwahrscheinlich, da es niemand wagte, den Berg zu besteigen, zumal es ein paar Jahre später einen Vulkanausbruch gab. Dadurch wurden dann endgültig alle abgeschreckt, die es vielleicht vorgehabt hatten.«
»Aber wo ist das Buch denn aufgetaucht?«, fragte Matthias.
»Auf einem Bischofssitz, irgendwas mit S, glaube ich.«
»In Skálholt?«, fragte Dóra.
»Ja, kann sein«, antwortete Elisa.
»In Skálholt wurde nie eine Handschrift des Hexenhammers gefunden«, erklärte Dóra und trank einen Schluck Kaffee.
»Harald glaubte, die Handschrift sei bis zum Eintreffen der ersten Druckpresse dort geblieben und dann zu einem anderen Bischofssitz gebracht worden. Irgendein Ort mit P.«
»Hólar«, sagte Dóra, obwohl das nicht mit P anfing.
»Ich weiß es nicht mehr«, sagte Elisa. »Kann schon sein.«
»Wahrscheinlich hat irgendjemand das Päckchen geöffnet. Aber was ist dann mit dem Buch geschehen? Es ist nie veröffentlicht worden, oder?«, fragte Matthias Dóra.
»Nein«, antwortete sie. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Ja«, sagte Elisa. »Harald hat entdeckt, dass das Buch nie aus Skálholt weggebracht worden war. Er hat es in dieser Gegend gefunden. Er sagte, man habe es versteckt, damit es nicht außer Landes gebracht werden konnte.«
»Und wo war es?«, fragte Dóra.
Elisa trank einen Schluck Wein. »Ich weiß es nicht. Harald wollte es mir nicht sagen. Er wollte mir den Rest der Geschichte erst erzählen, wenn er das Buch in der Hand hat.«
Dóra und Matthias konnten ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Haben Sie nicht weiter danach gefragt? Hat er nichts durchblicken lassen?«, fragte Dóra ungeduldig.
»Nein, es war schon sehr spät und er hat sich so über die Sache gefreut, dass ich ihm die Spannung nicht kaputtmachen wollte.« Elisa lächelte zerknirscht. »Am nächsten Tag haben wir uns dann über andere Dinge unterhalten. Glauben Sie, dass es etwas mit dem Mord zu tun hat?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Dóra enttäuscht. Auf einmal fiel ihr Mal ein. Vielleicht kannte Elisa Haralds E-Mail-Freund. Dieser Mal verfügte vielleicht über wichtige Informationen. »Elisa, kennen Sie einen gewissen Mal?«
Elisa lächelte. »Mal, ja, ja. Ich weiß, wer Mal ist. Er heißt Malcolm und sie haben sich in Rom kennen gelernt. Mal ist auch Historiker. Er hat mich kürzlich angerufen und mir erzählt, er hätte eine seltsame E-Mail von Harald aus Island bekommen. Ich habe ihm gesagt, dass Harald ermordet wurde.«
»Glaubst du, er weiß etwas über die Geschichte?«, fragte Matthias. »Kannst du uns mit ihm in Kontakt bringen?«
»Nein, er weiß nichts«, antwortete Elisa. »Er hat mich nämlich wegen des Buches gelöchert. Harald hatte ihm gegenüber etwas durchblicken lassen, ihm aber keine Details erzählt. Malcolm hatte das Ganze immer für Quatsch gehalten und wollte deshalb unbedingt wissen, wie die ganze Geschichte zusammenhing.«
Dóras Handy klingelte. Es war die Polizei.
Dóra wechselte ein paar Worte mit einem Beamten, legte das Handy beiseite und schaute Matthias an. »Der Medizinstudent Halldór ist wegen des Mordes an Harald festgenommen worden. Er möchte mich als Verteidigerin.«
Dóra saß auf der Polizeiwache und zerbrach sich den Kopf darüber, ob man ihr die Berufszulassung wegen groben Missbrauchs ihrer Stellung und unvereinbarer Interessenkonflikte entziehen konnte. Einerseits arbeitete sie für die Angehörigen des Ermordeten und andererseits wollte sie den Verdächtigen verteidigen. Sie hatte in aller Eile ein Taxi bestellt. Matthias war bei Elisa geblieben. Er wollte Frau Guntlieb die Neuigkeit überbringen und ihr den plötzlichen Entschluss erklären. Wahrscheinlich würde er ihr sagen, dass Dóra auf diese Weise die Möglichkeit bekäme, mit dem Mörder persönlich zu sprechen und Antworten auf die ungeklärten Fragen zu erhalten. Na dann, viel Glück, dachte Dóra. Sie beneidete Matthias überhaupt nicht. Während eines Migräneanfalls war niemand besonders verständnisvoll.
»Guten Tag. Er ist so weit.« Ein Polizeibeamter war zu Dóra getreten, ohne dass sie es bemerkt hatte.
»Ja, vielen Dank«, sagte Dóra und stand auf. »Kann ich Halldór allein treffen?«
»Ja, er hat schon eine Aussage gemacht. Da wollte er noch keinen Anwalt haben. Es war ziemlich unangenehm — wir sind es nicht gewöhnt, jemanden, der eines so schwerwiegenden Verbrechens bezichtigt wird, ohne Anwalt zu verhören. Aber er bestand darauf und wir konnten nichts dagegen tun. Erst nach seiner Aussage fragte er nach einem Anwalt, und zwar nach dir.«
»Ist Markús Helgason da? Könnte ich ihn kurz sprechen, bevor ich Halldór treffe?«, fragte sie höflich.
Der Polizist brachte sie zu seinem Kollegen.
Dóra begrüßte Markús, der mit der Manchester-United-Tasse vor sich in seinem Büro saß. »Ich möchte dich nicht lange stören, nur kurz mit dir sprechen, bevor ich Halldór treffe.«
»Kein Problem«, sagte Markús. Seine Stimme klang nicht übermäßig begeistert.
»Du erinnerst dich doch bestimmt daran, dass ich für die Guntliebs arbeite?« Der Polizeibeamte nickte abwesend. »Ich bin in einer prekären Lage — ich sitze zwischen zwei Stühlen.«
»Ja, unbestreitbar. Genau aus diesem Grund haben wir Halldór nachdrücklich davon abgeraten, sich von dir verteidigen zu lassen. Aber er ließ nicht mit sich reden. Du bist für ihn eine Art Robin Hood. Er hat den Mord nicht gestanden. Er glaubt wohl, du könntest ihm aus der Klemme helfen.« Markús grinste fies. Dóra ließ sich von seiner Bemerkung nicht beirren. »Ihr glaubt also, dass er schuldig ist?«
»Aber ja«, sagte Markús. »Wir haben Beweise für seine Mittäterschaft. Handfeste Beweise. Die beiden Freunde haben es gemeinsam getan. Zufälligerweise kamen sie am selben Tag aus zwei verschiedenen Richtungen. Ich hatte schon immer ein Faible für Zufälle.« Er lächelte.
»Und wann ist das ans Licht gekommen?«, fragte Dóra.
»Gestern, gegen Abend. Wir haben Anrufe von zwei Personen bekommen, die mit dem Ermordeten in Verbindung standen. Beide haben Informationen geliefert, die Halldórs Schuld bezeugen und Aufschluss über den Tatort geben.«
»Welche Informationen waren das, wenn ich fragen darf?«
»Es spielt sowieso keine Rolle, ob du es jetzt oder später erfährst. Bei Harald wurde ein Karton mit allen möglichen abartigen Dingen gefunden, in der gemeinsamen Waschküche. Darunter war auch ein Stück Leder mit einem Ver …«
»Einem Vertrag über die Augen«, schnitt ihm Dóra seelenruhig das Wort ab. »Der ist mir bekannt.«
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