»BS?«, fragte Dóra, nur um etwas zum Gespräch beizutragen.
»Nein. LL«, antwortete der junge Mann und lächelte.
»LL?«
»Loricatus Lupus — lateinisch für ›geharnischter Wolf‹ oder auf Isländisch: Brynjólfur.« Er lächelte Dóra zu, die instinktiv mit den Fingern schnippte — Loricatus Lupus stand auf Haralds Notizzettel. Falls dieses Gekritzel etwas mit dem Mord zu tun hatte, waren sie ganz gewiss auf der richtigen Spur.
Kurz darauf war das Gespräch beendet. Matthias und Dóra bedankten sich für die Auskünfte und verabschiedeten sich. Bevor Matthias den Motor anließ, drehte er sich zu Dóra und sagte:
»Loricatus Lupus, tja. Sollen wir warten, bis alle weg sind, und dann die ganze Gegend umgraben?«
»Ja, unbedingt«, entgegnete Dóra grinsend. »Fangen wir auf dem Friedhof an.«
»Okay, die Schaufel nehmen Sie — immerhin tragen Sie die passende Kleidung fürs Graben. Ich leuchte Ihnen mit den Autoscheinwerfern.«
Sie ließen Skálholt hinter sich. »Ich weiß, wohin wir als Nächstes fahren«, sagte Dóra unschuldig. »In der Nähe von Hella gibt es ein paar Höhlen, angeblich von den Papar. Vielleicht entdecken wir dort etwas, das Haralds Interesse an diesen Einsiedlermönchen erklärt. Mein Gefühl sagt mir, dass er sich die Taschenlampe ausgeliehen hat, um sich in den Höhlen umzusehen.«
Matthias zuckte die Achseln. »Die sind bestimmt einen Blick wert — haben wir eine Taschenlampe?«
»Wir halten an der Tankstelle und besorgen uns eine.«
Als sie in Hella ankamen, war es stockdunkel. Sie fuhren zur Tankstelle und kauften zwei Taschenlampen. Auf ihre Frage nach den Höhlen verwies sie der Tankwart an das Hótel Mosfell. Da es nur einen Katzensprung entfernt war, gingen sie zu Fuß. Ein sympathischer, älterer Mann kam mit ihnen hinaus und zeigte ihnen die Höhlen, deren Umrisse sich jenseits der Nationalstraße auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses abzeichneten. Er erklärte ihnen auch den besten Fußweg, da man mit dem Auto nicht bis an die Höhlen heranfahren konnte. Nachdem sie sich herzlich bei ihm bedankt hatten, gingen sie wieder zum Auto und fuhren über die Brücke bis zu der Stelle, an der sie nach Aussage des Mannes den Wagen parken sollten. Zu Dóras großer Freude mussten sie ein kurzes Stück über eine Wiese laufen, die zu einem Bauernhof gehörte. Matthias rutschte unentwegt mit seinen glatten Schuhsohlen aus, fing sich aber jedes Mal wieder, indem er wild mit den Armen wedelte. Als sie den Rand der Senke, die zu den Höhlen führte, erreicht hatten, war Dóra in bester Laune.
»Da«, sagte sie und zeigte geradeaus. Sie schaute ihn mit gespielter Sorge an. »Glauben Sie, Sie schaffen es ohne Probleme den Hang hinunter?«
Matthias schnitt eine Grimasse und bemühte sich, männlich zu erscheinen. Anschließend tippelte er wie ein neunzigjähriger Greis den Abhang hinunter, während Dóra wie ein junges Reh nach unten hüpfte. Dort angekommen, genoss sie den Anblick und rief ihm hämisch zu: »Beeilen Sie sich!« Matthias ignorierte sie. Schließlich kam er heil unten an.
»Was für eine Hektik«, sagte er und schaltete seine Taschenlampe ein. »Sind Sie so ungeduldig, weil Sie es nicht erwarten können, mit mir essen zu gehen?«
Dóra knipste ihre Taschenlampe ebenfalls ein und richtete den Lichtstrahl auf Matthias’ Gesicht. »Nicht unbedingt. Kommen Sie.« Sie drehte sich auf dem Fuß um und betrat die erste Höhle.
»Wow, wie haben die das bloß hingekriegt?«, sagte sie verdutzt und ließ den Lichtstrahl durch den riesigen Raum wandern. Die Papar mussten die Höhlen mit primitiven Werkzeugen in den Sandstein gehauen haben.
»Wozu sollten die Höhlen eigentlich gut sein?«, fragte Matthias.
»In erster Linie Schutzunterkünfte«, tönte eine unbekannte Stimme vom Höhleneingang.
Dóra stieß einen spitzen Schrei aus und ließ ihre Taschenlampe fallen. Sie rollte über den unebenen Höhlenboden und der Lichtschein wirbelte über die gegenüberliegende Wand. »Oh Gott, hab ich mich erschreckt«, sagte Dóra und bückte sich nach der Lampe. »Wir haben nicht damit gerechnet, hier jemanden zu treffen.«
»Entschuldigung, ich wollte euch keinen Schreck einjagen«, sagte der Mann, der schon recht betagt wirkte. »Aber jetzt sind wir ja quitt«, fügte er hinzu. »Ich hab mich schon lange nicht mehr so erschreckt, wie bei deinem Geschrei eben. Ich habe einen Anruf vom Hótel Mosfell bekommen und die haben mir erzählt, dass Touristen zu den Höhlen unterwegs sind. Ich dachte, ihr hättet vielleicht Interesse an einer Führung. Ich heiße Grímur, mir gehört das umliegende Land. Die Höhlen sind ein Teil davon.«
»Ja, gern«, sagte Dóra überrascht. Diese Ländereien waren nicht zu verachten. »Wir hätten sehr gern eine Führung — wir wissen nur wenig über diese Gegend.«
Der Mann betrat die Höhle und begann zu erklären. Er sprach Isländisch und Dóra übersetzte das Wichtigste für Matthias. Unter anderem zeigte Grímur ihnen, wie die Lagerstätten an den Wänden hergestellt worden waren, außerdem einen Entlüftungsschacht, der durch die Decke gehauen worden war, um Luft hinein- und Rauch hinauszulassen, und einen Altar mit einem Kreuz, das die Papar in die Wand gemeißelt hatten. »Aha«, sagte Dóra beeindruckt. »Das ist ja wirklich beachtlich.«
»Ja, das ist es«, sagte der Mann mit verschmitztem Gesichtsausdruck. »Dieses Land war nicht leicht zu besiedeln, das steht fest. Man musste eine Menge durchmachen, um sich eine Behausung zu schaffen.«
»Da hast du Recht.« Dóra schaute sich noch einmal mit Hilfe der Taschenlampe um. »Wurden die Höhlen erforscht? Ich meine, könnten sich hier irgendwelche Schätze verbergen?«
»Schätze?« Der Mann war überrascht. Dann lachte er auf. »Meine Liebe, die Höhle wurde bis 1950 als Stall benutzt. Hier ist kaum etwas zu finden. Es müsste schon verdammt gut versteckt sein.«
»Hm«, sagte Dóra enttäuscht. »Die ganze Gegend wurde also untersucht?«
»Nein, das hab ich nicht gesagt«, antwortete der Mann. »Meines Wissens gab es nur einmal eine Ausgrabung in meinen Höhlen.«
»Wann war das?«, fragte Dóra. »Kürzlich?«
Der Mann lachte. »Nein, das kann man wohl kaum als kürzlich bezeichnen. Ich weiß nicht mehr genau, wann es war, aber es ist schon ein paar Jahre her. Wie nicht anders zu erwarten, kam nicht viel bei der Sache herum. Es wurden Reste von Tierknochen gefunden und ein Loch, das wohl zum Kochen verwendet wurde.« Er zeigte auf eine Ausbuchtung in der Erde, unweit des Altars.
Dóra fragte den Mann am Ende, ob er etwas von Haralds Besuch in den Höhlen mitbekommen habe. Die Beschreibung von Harald sagte dem Mann nichts, aber er betonte, das bedeute nicht unbedingt, dass er nicht da gewesen sei — die Höhlen seien nicht eingezäunt und es gelangten leicht Leute hinein, ohne dass die Bewohner des Hofes davon etwas merkten.
»Ziehen Sie sich was anderes an, Crocodile Dundee«, sagte Matthias, als sie wieder beim Hotel waren. »Ich bin in der glücklichen Lage, nur meinen Mantel ausziehen zu müssen und direkt an die Bar gehen zu können. So hole ich die Zeit wieder heraus, die ich an diesem Hang vergeudet habe.«
Dóra schmollte, eilte aber dennoch ins Hotel, um sich umzuziehen. Sie zog eine schicke Hose und eine schlichte, weiße Bluse an, wusch sich das Gesicht und trug ein wenig Lippenstift auf. Man konnte sich ruhig ein bisschen zurechtmachen, wenn man zum Essen eingeladen wurde.
An der Bar stand Matthias, bereits im Gespräch mit dem Barmann — hoffentlich dieser Óli. Matthias lächelte ihr entgegen, offensichtlich erfreut über ihre Verwandlung.
»Schick«, sagte er kurz und bündig. »Das ist Óli. Er hat mir von Harald und Harry Potter erzählt, er kann sich gut an die beiden erinnern. Tranken jede Menge und waren anders als die anderen Gäste.«
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