»Hören Sie«, rief der junge Mann, als Dóra gerade dabei war, die Piercings in Haralds rechter Augenbraue zu beschreiben. »Meinen Sie den ermordeten Studenten? Den hab ich getroffen!«
»Erinnern Sie sich vielleicht daran, was ihn hergeführt hat?«, fragte Dóra mit breitem Lächeln.
»Lassen Sie mal sehen — wenn mich nicht alles täuscht, wollte er etwas über Jón Arason und dessen Hinrichtung wissen. Ja, und über Brynjólfur Sveinsson.« Er schaute die beiden an und fügte hastig hinzu: »Das ist nichts Ungewöhnliches — wir haben viele Besucher, die diese Geschichten kennen und mehr darüber wissen möchten. Selbstverständlich haben sie eine gewisse Anziehungskraft, obwohl sie grauenhaft und traurig sind. Die Leute staunen beispielsweise darüber, dass Jón Arason mit sieben Schlägen geköpft wurde; sein Kopf wurde im Grunde zertrümmert.«
»Ging es dem Studenten nur um die Bischöfe im Allgemeinen?«, fragte Dóra. »Oder interessierte er sich in diesem Zusammenhang für etwas Spezielles?«
Der junge Mann wendete sich an Matthias. »Ich weiß nicht, wie viel Sie über die Geschichte von Jón Arason wissen.«
Matthias merkte, dass er angesprochen wurde, und entgegnete: »Ich weiß ungefähr genauso viel über ihn wie über seine Mutter. Nämlich gar nichts.«
»Ach so.« Der junge Mann konnte seine Empörung nicht verbergen. »Um es kurz zu machen: Jón Arason war der letzte katholische Bischof in Island, er residierte ab 1524 in Hólar im Hjaltadalur, und Skálholt war zeitweise ebenfalls seine Diözese. 1550 wurde er hier in Skálholt geköpft. Dies geschah im Zuge eines Beschlusses des dänischen Königs, Christian III., aus dem Jahr 1537. Er ordnete an, den Katholizismus in Island, wie in den anderen dänischen Herrschaftsgebieten, abzuschaffen. Jón Arason wollte dies verhindern und stritt mit den Anhängern der Reformation, aber es war alles umsonst und er endete auf dem Schafott. Die Hinrichtung ist ziemlich speziell, da er zwei Wochen vorher bis zur nächsten Thing-Versammlung für unantastbar erklärt worden war. Erst dann hätte ein Urteil über ihn und seine beiden Söhne gefällt werden müssen. Sie wurden ebenfalls hingerichtet.«
Matthias runzelte die Stirn. »Seine Söhne? Er war doch katholischer Bischof. Wieso hatte er Söhne?«
Der junge Mann lächelte. »Island war eine Art Sonderfall — ich weiß nicht, wie es dazu gekommen war –, aber Pfarrer, Küster und Bischöfe durften Gefährtinnen haben. Sie durften sogar mit einer Frau einen Gütervertrag eingehen, der einem Ehevertrag fast gleichgestellt war. Wenn sie Kinder bekamen, zahlten sie eine Geldbuße, und alle waren glücklich und zufrieden.«
»Das ist ja praktisch«, sagte Matthias mit verwundertem Gesichtsaudruck.
»Sehr«, war die amüsierte Antwort. »Ihr Bekannter Harald schien diese Geschichte gut zu kennen; er muss sie ausgiebig studiert haben. Das war jetzt natürlich nur ein Schnelldurchlauf. Aber es führt mich endlich zu ihrer Frage.« Er schaute Dóra an, die ihre Frage schon längst vergessen hatte, aber versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Ihr Bekannter interessierte sich bei unserem Gespräch besonders für eine Sache: die erste Druckerpresse, die Jón Arason im Jahr 1534 nach Island brachte und die in Hólar in Betrieb genommen wurde. Und für die Texte, die dort gedruckt wurden.«
»Und?«, fragte Dóra. »Was wurde dort gedruckt?«
»Eine gute Frage«, antwortete der junge Mann. »Eigentlich weiß man so gut wie nichts darüber. In einigen Quellen ist von einem Jahrbuch für Priester die Rede, eine Art Handbuch mit einem Messkalender, Psalmen und Ähnlichem. Außerdem wurden irgendwann die vier Evangelien aus dem Neuen Testament gedruckt. Anderes ist, soweit ich weiß, aus der Zeit von Bischof Jón nicht überliefert. Ihr Bekannter stellte allerdings recht ungewöhnliche Fragen — zum Beispiel, ob Jón Arason nicht möglicherweise ein damals sehr beliebtes Buch hatte herausgeben wollen. Ich dachte, er meinte die Bibel, aber er lachte mich nur aus. Ich hab seinen Humor wohl nicht richtig verstanden.«
»Nein, das kann ich mir vorstellen«, entgegnete Matthias und warf Dóra einen Blick zu. »Malleus?« Sie hatte genau dasselbe gedacht. Malleus Maleficarum war neben der Bibel das meistgedruckte Buch der damaligen Zeit. Vielleicht wollte Harald herausfinden, ob es in Island gedruckt worden war. Ein solches Exemplar wäre natürlich sehr wertvoll, zumal es für einen leidenschaftlichen Sammler wie Harald einen hohen Sammlerwert hatte.
»Und was wollte er über Brynjólfur Sveinsson wissen?«, fragte Dóra.
»Das war ein bisschen sonderbar«, antwortete der junge Mann. »Erst wollte er nur sein Grab sehen — was nicht möglich ist, da es nie gefunden wurde.«
Dóra fiel ihm ins Wort. »Nie gefunden? Wurde er nicht hier begraben?«
»Doch, schon, aber er wurde auf eigenen Wunsch außerhalb der Kirche neben seiner Frau und seinen Kindern begraben. Es gibt eine Beschreibung der Grabstelle, aber sie wurde noch nicht ausgehoben. Er wollte in ungeweihter Erde ruhen.«
»Ist das nicht eigenartig?«, fragte Dóra.
»Ja, allerdings. Die Grabstelle wurde später markiert, mit einer Holzbefestigung, die dreißig Jahre lang standhielt. Dann verfiel sie und wurde nicht wieder aufgebaut. Im Grunde weiß niemand, warum er sich nicht unter dem Kirchenboden begraben ließ, wie es damals Sitte war. Man sagt, er habe bei der Grablegung eines Priesters der Skálholt-Kirche gesehen, wie eng es dort unten geworden sei. Wahrscheinlich wollte er diese Sitte abschaffen.«
»Und tat er das?«, fragte Matthias. »Wurde sie abgeschafft?«
»Nein, nein, keinesfalls. Vielleicht gab es aber auch einen anderen Grund. Brynjólfur war ein gebrochener Mann, als er starb. Verständlicherweise — dieser bemerkenswerte Mann starb ganz allein, seine gesamte Familie war tot und er hatte keine lebenden Nachkommen. Dieses Schicksal berührt die meisten.«
»Aber Sie sagten doch«, wandte Dóra ein, »Harald habe zunächst nur Brynjólfurs Grab sehen wollen — und dann?«
»Ja, genau. Als ich merkte, wie enttäuscht er wegen des Grabes war, sprach ich mit ihm über Brynjólfur im Allgemeinen. Ich hab ihm den Keller mit der archäologischen Sammlung gezeigt, dann die Ausgrabungsstätte. Wir kamen auf Brynjólfurs Handschriften zu sprechen — wissen Sie, dass er eine große Sammlung mit isländischen und ausländischen Handschriften besaß?« Dóra und Matthias schüttelten die Köpfe. »Wissen Sie, dass er dem dänischen König Friedrich einige der bemerkenswertesten Pergamente des Landes überließ? Ihr Bekannter war ganz aufgeregt, als ich ihm von den Handschriften erzählte, und wollte wissen, was nach Brynjólfurs Tod mit ihnen geschehen war. Ich konnte ihm nichts Genaues darüber sagen, wusste aber, dass er dem Sohn des damaligen Landvogts in Bessastaðir, einem Dänen namens Johann Klein, die ausländischen Bücher übergab. Die isländischen Bücher teilte er zwischen seiner Kusine Helga und seiner Schwägerin Sigríður auf. Ein Teil der ausländischen Bücher kam wohl abhanden; jedenfalls fehlten einige, als Johann Klein aus Bessastaðir herkam, um sie abzuholen. Man glaubt, die Leute von Skálholt hätten einen Teil der Bücher versteckt, damit sie nicht nach Dänemark gelangten. Diese Bücher und Handschriften sind nie gefunden worden. Man weiß noch nicht mal genau, um welche Art Schriften es sich handelte.«
»Wo könnte man sie denn versteckt haben?«, fragte Dóra und schaute sich um.
Der junge Mann lächelte. »Hier drinnen jedenfalls nicht. Dieses Gebäude ist von 1956. Die alte Kirche, die Brynjólfur in den Jahren 1650 und 1651 bauen ließ, fiel 1784 einem Erdbeben zum Opfer.«
»Aber hat man nicht versucht, die Bücher zu finden?«
»Wir haben noch nicht mal die Grabstätte von Brynjólfur und seiner Familie gefunden, obwohl es eine Ortsbeschreibung gibt. Er starb 1675. Es ist völlig abwegig, nach Büchern zu suchen, die vielleicht damals hier vergraben wurden. Es ist auch nicht genau überliefert, was mit den vererbten Büchern geschah. Árni Magnússon fand angeblich einige von ihnen, als er Ende des 17. Jahrhunderts begann, Handschriften zu sammeln. Ein paar Bücher sind an Brynjólfurs Monogramm zu erkennen.«
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