Gurra öffnete den Schrank und holte einen Schrubber und einen Eimer heraus. Als sie den Eimer nach vorn zog, kam ein Karton zum Vorschein. Normalerweise war der Schrank bis auf die Putzutensilien beider Wohnungen leer. Sie zog den Karton vorsichtig heraus. Er musste von Harald sein. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie zuletzt in der Waschküche den Boden geputzt hatte. Guter Gott — es war genau an dem Tag gewesen, als Harald mit ihr Schluss gemacht hatte. Er war reingekommen, um Klamotten in die Waschmaschine zu schmeißen. Als sie ihm signalisiert hatte — damit auch keine Missverständnisse aufkamen –, dass sie nicht abgeneigt wäre, verkündete er lächelnd, es sei an der Zeit, die Sache zu beenden. Er musste den Karton kurz vor dem Mord in den Schrank gestellt haben. Warum nur? Er hatte den Platz, den sie ihm in der Abstellkammer angeboten hatte, nie in Anspruch genommen. Vielleicht wollte er vor seiner neuen Freundin etwas verstecken, hatte es in die Kiste getan und diese in den Schrank gestopft. In Anbetracht seines Äußeren und seiner merkwürdigen Wohnungseinrichtung war es nur schwer vorstellbar, dass er etwas zu verbergen hatte. Ihr Herz setzte einen Moment aus. Es sei denn, er hatte seine sexuellen Abenteuer heimlich gefilmt und nicht gewollt, dass das Mädchen dahinterkam. Es gab wohl kaum etwas Abstoßenderes, als zu erfahren, dass man schon bald in die Sammlung eingereiht würde. Gurra stützte ihren Kopf in die Hände. Vielleicht war sie selbst auf einem Video oder einem Foto verewigt. Reglos stand sie da und starrte den Karton an. Sie musste ihn öffnen. Unbedingt. Den Karton öffnen und sich vergewissern, dass nichts darin war, was ihr Geheimnis enthüllen könnte.
Gurra bückte sich und öffnete den Pappdeckel. Sie starrte in den Karton. Keine Fotos — keine Videos. Stattdessen Küchenhandtücher, die um irgendwelche, vermutlich zerbrechlichen Gegenstände gewickelt waren, außerdem einige Dokumente in Plastikhüllen. Gurra fiel ein Stein vom Herzen. Sie griff nach einem Dokument — es war ein uralter, gewiss wertvoller Brief. Da sie den Text nicht richtig lesen konnte, klemmte sie sich den Brief unter den Arm, um ihn später genauer zu untersuchen. Sie blätterte durch die übrigen Papiere und sah zu ihrer großen Erleichterung, dass sie nichts mit Sex oder Haralds Privatleben zu tun hatten. Eines der Dokumente machte sie neugierig. Es war ziemlich unleserlich, irgendein Gekritzel mit roter Tinte, und das Papier — falls es sich überhaupt um Papier handelte — war dick, dunkel und wachsartig. Der Text war höchst merkwürdig und unten auf dem Blatt war eine Rune oder irgendein Symbol. Der Text war mit zwei Namen unterschrieben, beide schwer zu entziffern, aber Haralds Unterschrift erkannte sie aus dem Mietvertrag. Sie legte das Blatt wieder in den Karton. Seltsam.
Gurra schob die Dokumente beiseite, um an die zerbrechlichen, in Küchentücher gewickelten Gegenstände ganz unten in dem Karton zu gelangen. Sie griff nach einem Bündel und hob es vorsichtig heraus. Es war leicht, so als wären die Tücher leer. Sie öffnete es achtsam und starrte entsetzt auf den Inhalt. Dann stieß sie einen Schrei aus, zerknitterte dabei den alten Brief, den sie in der Hand hielt und warf das Küchentuch weg. In Panik rannte Gurra aus der Waschküche und warf die Tür ins Schloss.
Gunnar nahm den Hörer und wählte die Durchwahl von Maria, der Leiterin des Árni-Magnússon-Instituts. Es wäre nicht ungewöhnlich, sie noch in ihrem Büro anzutreffen, obwohl Samstag war. Eine große Ausstellung stand bevor und in Anbetracht der Hektik bei der letzten Ausstellung dieser Größenordnung stand wahrscheinlich das gesamte Institut Kopf. »Hallo Maria, hier ist Gunnar.« Er bemühte sich, seine Stimme autoritär klingen zu lassen — die Stimme eines Mannes, der alles im Griff hatte.
»Ach, du bist es.« Der kurzen Antwort nach zu schließen, war ihm dies gründlich misslungen. »Ich wollte dich auch gerade anrufen. Irgendwelche Neuigkeiten?«
»Ja und nein«, antworte Gunnar zögernd. »Ich bin kurz davor, den Brief zu finden, glaube ich.«
»Da bin ich aber erleichtert, dass du glaubst, ihn zu finden«, sagte sie ironisch.
Gunnar hütete sich davor, einen Streit vom Zaun zu brechen. »Ich habe hier im Haus überall gesucht und Kontakt mit Bevollmächtigen von Haralds Familie aufgenommen. Sie suchen in seiner Wohnung. Der Brief muss dort sein — davon bin ich überzeugt.«
»Meinst du vielleicht, du glaubst, du bist davon überzeugt?«
»Hör zu, ich hab nur angerufen, um dich zu informieren — deine Spitzfindigkeiten kannst du dir sparen«, entgegnete Gunnar, obwohl er am liebsten aufgelegt hätte.
»Schon gut, entschuldige. Wir haben hier sehr viel zu tun wegen der Ausstellung. Ich bin ein bisschen gestresst. Nimm das nicht so ernst«, sagte Maria mit wesentlich freundlicherer Stimme. Dann fügte sie im selben Ton wie vorher hinzu: »Aber ich stehe zu meinem Wort, Gunnar. Du hast nur noch ein paar Tage Zeit, um den Brief zu finden. Ich kann nicht wegen deines Studenten irgendetwas geheim halten.«
Gunnar überlegte, wie viele Tage »ein paar« waren. Kaum mehr als fünf, wahrscheinlich eher drei. Aus Angst, sie könne die Frist verkürzen, wollte er sie nicht zu einer konkreteren Angabe drängen. »Das ist mir klar — ich melde mich, sobald es etwas Neues gibt.«
Sie verabschiedeten sich wortkarg. Gunnar stützte sich auf die Ellbogen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er musste den Brief finden. Sonst wäre er vermutlich seinen Job los. Es war undenkbar, einen Institutsleiter des Diebstahls von Unterlagen einer ausländischen Bibliothek zu bezichtigen. Er spürte, wie Hass in ihm hochkochte. Dieser verfluchte Harald Guntlieb. Bevor er auf der Bildfläche erschienen war, hatte Gunnar sogar mit dem Gedanken gespielt, sich für die Position des Rektors zu bewerben. Jetzt sehnte er sich nur danach, dass sein Leben wieder in geregelten Bahnen verlief. Mehr nicht. Es klopfte an der Tür.
Gunnar erhob sich und rief: »Herein.«
»Guten Tag, darf ich dich kurz stören?« Es war Tryggvi, der Hausmeister. Er kam ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ruhig trat er an Gunnars Schreibtisch, lehnte aber den angebotenen Stuhl ab. Er streckte seinen Arm aus und öffnete die Hand.
»Eine der Putzfrauen hat das im Studentenzimmer gefunden.«
Gunnar griff nach dem kleinen Metallstern. Er betrachtete ihn von allen Seiten und schaute Tryggvi dann fragend an. »Was ist das? Das kann nicht viel wert sein.«
Der Hausmeister räusperte sich. »Ich glaube, der Stern stammt von den Schuhen dieses toten Studenten. Die Putzfrau hat ihn vor ein paar Tagen gefunden, mir aber erst jetzt davon erzählt.« Gunnar schaute ihn verständnislos an. »Na und? Ich verstehe nicht ganz.«
»Da war noch was. An einem Fenster hat sie getrocknetes Blut entdeckt.« Tryggvi schaute Gunnar in die Augen und wartete auf eine Reaktion.
»Blut? Aber er ist doch erwürgt worden«, entgegnete Gunnar erstaunt. »Das ist vielleicht irgendein älteres Blut.«
Tryggvi zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich wollte dir das Sternchen nur geben — du kannst selbst entscheiden, was du damit machst.« Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, hielt dann aber inne. »Er wurde natürlich mehr als nur erwürgt.«
Gunnar spürte, wie sich ihm beim Gedanken an die schreckliche Entstellung der Leiche der Magen umdrehte. »Ach ja, stimmt.« Ratlos starrte er das Sternchen an. Als Tryggvi wieder das Wort ergriff, schaute Gunnar auf.
»Ich bin sicher, dass der Stern von den Schuhen stammt, die Harald anhatte, als er ermordet wurde. Aber ich hab natürlich keine Ahnung, ob er schon vorher abgefallen ist.«
»Tja«, murmelte Gunnar. Er biss die Zähne zusammen, schaute Tryggvi entschlossen an, stand auf und sagte: »Danke, selbst wenn die Sache vielleicht keine Rolle spielt, war es richtig, mich darüber zu informieren.«
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