Glorias dunkle Augen weiteten sich. »Ich hab’s euch doch gesagt — und der Polizei auch. Da war nichts.«
Sie log. Laura schaute sie ernst an. »Gloria. Sag mir die Wahrheit. Du weißt, dass es eine Sünde ist zu lügen. Gott weiß, was du dort gesehen hast. Willst du ihn auch anlügen, wenn du am Ende vor ihm stehst?« Laura packte das Mädchen an der Schulter und zwang sie, ihr in die Augen schauen. »Es ist alles in Ordnung. Du konntest nichts von dem Mord wissen. An dem Wochenende hat niemand die Druckerkammer betreten. Was hast du gesehen?«
Eine Träne rann Gloria über die Wange. Laura ließ sich davon nicht beirren, zumal das Mädchen nicht zum ersten Mal bei der Arbeit weinte. »Gloria. Wisch dir das Gesicht ab. Sag es mir! Ich hab Blutspuren am Fenstergriff gefunden. Was war da drinnen?«
Aus einer Träne wurden zwei, dann drei und dann ein ganzer Wasserfall. Plötzlich stieß Gloria schluchzend hervor: »Ich wusste doch nicht, ich wusste doch nicht …«
»Ich weiß, Gloria. Wie hättest du es wissen können?« Sie strich dem Mädchen die Tränen von der Wange. »Was hast du da drinnen gefunden?«
»Blut«, entgegnete das Mädchen und schaute Laura angsterfüllt an. »Es war keine richtige Blutlache. Nur ein bisschen Blut. Jemand hatte versucht, es wegzuwischen. Ich hab es erst gemerkt, als ich es schon mit dem Lappen abgewischt hatte. Ich hab nicht weiter drüber nachgedacht — ich konnte doch nicht ahnen … du weißt schon.«
Laura atmete auf. Blutspuren — das war alles. Das würde Gloria nicht in Schwierigkeiten bringen. Laura hatte den Lappen mit dem Blut vom Fenster aufbewahrt und würde ihn Tryggvi und der Polizei übergeben. Die würden schon herausfinden, von wem das Blut stammte. Laura hatte keinen Zweifel daran, dass der Mord im Studentenzimmer begangen worden war. »Gloria, mach dir keine Sorgen. Das ist nebensächlich. Du musst nur eine neue Aussage machen — sag einfach die Wahrheit, dass du dir nicht über die Wichtigkeit dieser Information im Klaren warst.« Sie lächelte, merkte aber zu ihrer Verwunderung, dass das Mädchen immer noch weinte.
»Da ist noch was«, sagte sie unter Schluchzen.
»Noch was?«, fragte Laura verwundert. »Was denn?«
»Ich hab an dem Morgen noch was dort gefunden. In der Schublade mit den Messern. Ich zeig’s dir«, sagte Gloria weinend. »Ich hab’s aufbewahrt. Komm mit.«
Laura folgte Gloria zu einer Putzkammer im ersten Stock. Dort stieg Gloria in Tränen aufgelöst auf einen kleinen Hocker und reckte sich zum obersten Regal. Sie reichte Laura einen kleinen, in ein Handtuch gewickelten Gegenstand und hörte endlich auf zu weinen. »Ich hab ihn aufbewahrt, weil ich wusste, dass da was nicht stimmt. Und als die Leiche gefunden wurde, hab ich begriffen, was es damit auf sich hat, und furchtbare Angst bekommen. Meine Fingerabdrücke sind da drauf und die Polizei glaubt sicher, ich hätte … — Aber ich hab ihn nicht umgebracht!«
Laura schlug das Handtuch vorsichtig auseinander. Sie schrie auf und bekreuzigte sich. In diesem Moment brach Gloria erneut in Tränen aus.
Guðrún, oder Gurra, wie ihre Freunde sie nannten, nahm all ihre Kraft zusammen und verdrängte das Verlangen, an ihren Nägeln zu kauen. Sie hatte schon vor so langer Zeit damit aufgehört, dass sie sich kaum daran erinnern konnte, ob es vor oder nach der Heirat mit Alli gewesen war. Gurra musterte ihre gepflegten Hände. Sie dachte kurz darüber nach, sich die Nägel zu lackieren, nur um den Lack wieder abkratzen zu können, sobald er hart geworden war. Stattdessen stand sie auf und ging in die Küche. Es war Samstag und sie würde etwas Leckeres kochen. Alli arbeitete jeden Tag außer sonntags, daher konnte er sich nur an den Samstagabenden ein bisschen entspannen. Gurra schaute auf die Uhr — es war noch zu früh, um mit dem Kochen zu beginnen. Sie seufzte. Alles war sauber und frisch geputzt. Aber sie musste sich eine Beschäftigung suchen, wenn sie nicht verrückt werden wollte. Etwas, das sie von dieser nagenden Angst ablenken würde. Sie dachte daran, wie schlecht sie sich gefühlt hatte, als die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl für die Wohnung in der oberen Etage bei ihr geklopft hatte. Und dann war gar nichts passiert. Unglaublich, aber wahr. Ihre Sorgen waren vollkommen unbegründet gewesen und sie hatte sich wieder beruhigen können. Bis vor kurzem.
Warum mischten sich diese Leute in die Sache ein? War die Polizei mit dem Ermittlungsergebnis nicht zufrieden? Warum musste das Ganze wieder aufgewirbelt werden? Gurra stöhnte laut. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Auch wenn Alli todlangweilig war und das Interesse an ihrer Ehe schon längst verloren hatte, hieß das nicht, dass sie ihn verlieren wollte. Sie bürdete sich sogar einiges auf, um ihn zu halten. Sie war schließlich schon 43, zu alt für den Singlemarkt.
Wie dumm sie gewesen war. Mit dem Mieter zu schlafen. Zumal schon wesentlich attraktivere Männer in der Wohnung gelebt hatten als dieser höchst sonderbare Deutsche. Sie war völlig kopflos gewesen — und es war öfter als einmal und öfter als zweimal passiert. Der Sex mit ihm war gut gewesen — das ließ sich nicht leugnen. Irgendwie aufregend, wahrscheinlich, weil sie genau wusste, dass sie etwas Verbotenes tat. Außerdem war Harald viel, viel jünger als ihr Mann und wesentlich ausdauernder. Wenn sein Körper nur nicht durch diese ganzen Narben und Ringe und Stacheln entstellt gewesen wäre.
Gurra holte tief Luft. Wodurch könnten sie es herauskriegen? Niemand wusste davon, zumindest hatte sie niemandem ein Sterbenswörtchen erzählt. Ein letzter Funke von Vernunft hatte sie davon abgehalten, vor ihrer besten Freundin mit dem Seitensprung zu prahlen. Und auch Harald hatte bestimmt nicht darüber gesprochen. Er hatte es nicht nötig, mit so etwas anzugeben — in seiner Wohnung gaben sich die jungen Frauen die Klinke in die Hand, hauptsächlich zwei Mädchen, eine große Rothaarige und eine kleine Blonde. Die Polizei wusste davon nichts; Gurra hatte mehrmals kurz mit den Beamten gesprochen und die hatten weder mit Worten noch mit Gesten durchblicken lassen, dass sie das Verhältnis zwischen Harald und ihr für etwas anderes hielten als für ein Mietverhältnis. Am Ende war es allerdings auch nichts anderes mehr gewesen. Harald hatte ihr mitgeteilt, er habe keine Lust mehr, er habe wichtigere Dinge zu tun. Beim Gedanken daran verzog sie das Gesicht. Sie hatte diejenige sein wollen, die Schluss macht. Man musste ihm jedoch zugute halten, dass er sich ausgesprochen nett bedankt hatte. Trotzdem hatte sie die Fassung verloren. Gurra errötete bei dem Gedanken. Wie lächerlich und primitiv von ihr. Die Sache hatte sie nur deswegen so aufgeregt, weil sie gewusst hatte, was dahintersteckte, er es ihr aber verschwiegen hatte. Harald hatte nämlich eine Freundin. Gurra hatte sie in der Woche vor dem Mord mehrmals die Wohnung betreten und verlassen sehen. Ein anderes Mädchen, das, wenn Gurra nicht alles täuschte, vorher noch nie bei Harald gewesen war. Sie hatten Deutsch miteinander gesprochen; Isländerinnen waren ihm vielleicht nicht gut genug, wenn’s darauf ankam. Aber am meisten ärgerte sie sich über Haralds Doppelmoral; sie konnte ihren Ehemann betrügen, aber er war sich zu fein, seine kleine Freundin zu hintergehen.
Aber es war nun mal aus und vorbei, jetzt kam es darauf an, sich nicht mit Dingen zu belasten, die wahrscheinlich eh nie ans Licht kommen würden. Gurra ging in die Waschküche. Es war schon lange her, seit sie hier aufgeräumt hatte. Die Waschküche lag am Flur und man gelangte sowohl aus ihrer Wohnung als auch aus Haralds Diele hinein. Gurra schloss auf und betrat den Raum. Doch, hier konnte man sich eine Weile beschäftigen. Es gab sogar noch Pfotenabdrücke der Drogenspürhunde. Zum Glück war in der Waschküche nichts gefunden worden — Gurra wusste nicht, ob Alli und sie auf eine schwarze Liste gekommen wären, wenn man in der Gemeinschaftswaschküche Drogen gefunden hätte. Mit Drogen hatte Gurra nie zu tun gehabt. Jedenfalls hatte die Polizei nichts gefunden — die Hunde hatten überall herumgeschnüffelt und einer der Beamten hatte aus Neugier in den Trockner und die Waschmaschine geschaut. Mehr hatten sie nicht kontrolliert.
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