»Es sind ja schließlich nicht sehr appetitliche Fotos«, stellte Matthias fest. »Die meisten Leute würden so reagieren wie Sie. Machen Sie sich keine Gedanken über den Arzt. Ich habe ihm gesagt, Sie seien gerade von einer Magen-Darm-Erkrankung genesen und daher nicht in der besten Verfassung für solche Anblicke.«
Dóra nickte. »Was zum Teufel war das eigentlich? Ich glaube, das meiste habe ich erkannt, aber im Nachhinein bin ich mir nicht mehr so sicher …«
»Scheint so, als habe Harald alle möglichen Eingriffe an seinem Körper vornehmen lassen. Der Arzt meint, die ältesten sind mehrere Jahre alt und die jüngsten nur ein paar Monate.«
»Aber warum hat er das getan?«, fragte Dóra. Ihr war unbegreiflich, was einen jungen Menschen dazu veranlassen konnte, sich selbst zu entstellen.
»Gott weiß warum«, antwortete Matthias. »Harald war nie so wie die anderen. Seit ich seine Familie kenne, sympathisierte er immer mit gesellschaftlichen Randgruppen. Erst war es die Umweltbewegung, eine Zeit lang eine Antiglobalisierungsgruppe. Als er schließlich anfing, Geschichte zu studieren, dachte ich, er sei stabiler geworden.«
Dóra schwieg und dachte an die Fotos und den Schmerz, den Harald empfunden haben musste. »Was genau … –«
In diesem Moment kam die Bedienung mit dem Kaffee und den Snacks, die sie bestellt hatten. Sie bedankten sich und als das Mädchen gegangen war, ergriff Matthias das Wort. »Das waren alle möglichen chirurgischen Eingriffe und Schnitte. Am meisten hat mich seine Zunge schockiert. Sie haben bestimmt bemerkt, dass eines der Fotos Haralds Mundhöhle zeigte.« Dóra nickte und Matthias sprach weiter. »Er hat seine Zunge in der Mitte einschneiden, also der Länge nach spalten lassen. Sie sollte wohl so aussehen wie eine Schlangenzunge, und ich muss zugeben, dass ihm das ganz gut gelungen ist.«
»Konnte er damit noch normal sprechen?«, fragte Dóra.
»Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er deshalb ein bisschen lispelte. Das kann man aber nicht mit Sicherheit sagen. Der Arzt behauptet, ein solcher Eingriff sei beileibe kein Einzelfall. Verständlicherweise sehr selten, aber ein Vorreiter war Harald damit zumindest nicht.«
»Er wird es wohl kaum selbst gemacht haben? Wer führt denn solche Eingriffe durch?«, fragte Dóra.
»Es handelte sich um einen relativ frischen Eingriff, vermutet der Arzt. Die Wunde war noch nicht ganz verheilt. Jeder, der Zugang zu Betäubungsmitteln, Zangen und Skalpellen habe, könnte so etwas blitzschnell durchführen: Ärzte, Operationsschwestern, Zahnärzte. Der Betreffende müsste allerdings auch desinfizierende und schmerzstillende Medikamente verschreiben oder zumindest beschaffen können.«
»Mein Gott, da fällt einem ja nichts mehr zu ein«, sagte Dóra. »Und das ganze andere Zeug: die Kugeln, die Narben, die Abzeichen, die Kegel und Gott weiß was alles?«
»Dem Arzt zufolge hat Harald sich verschiedene Metallobjekte unter die Haut implantieren lassen, sodass ihre Konturen zu sehen sind. Unter anderem diese kleinen Kegel oder Zacken auf seinen Schultern. Der Arzt hat insgesamt 32 Objekte entfernt, alles Mögliche bis hin zu den kleinen Kugeln, die Sie an seinen Geschlechtsorganen gesehen haben.« Matthias warf Dóra einen verlegenen Blick zu. Sie nippte an ihrem Kaffee und lächelte, um ihm zu signalisieren, dass ihr das nicht peinlich war. Er redete weiter.
»Dann sind da noch die Symbole; sie haben alle mit schwarzer Magie und Okkultismus zu tun. Harald hat immer weitergemacht; es gab nur wenige Körperstellen, die nicht auf irgendeine Weise verziert waren.« Matthias unterbrach sich für einen Moment, um einen Happen zu essen. »Gewöhnliche Tätowierungen scheinen ihm nicht gereicht zu haben, seine Tätowierungen waren Narben.«
»Narben?«, warf Dóra ein. »Hat er Tattoos entfernen lassen?«
»Nein, nein. Es handelt sich um Tätowierungen, die dadurch entstehen, dass die Haut eingeschnitten oder entfernt wird, damit sich Muster oder Symbole aus Narben bilden. Damit trifft man eine ziemlich endgültige Entscheidung. Wenn ich den Arzt richtig verstanden habe, kann man so eine Tätowierung nur durch Hautverpflanzungen rückgängig machen, was wiederum eine noch größere Narbe hinterlässt.«
Dóra war einfach nur verblüfft. Nichts war unmöglich. Als sie jung war, galt es als abgefahren, drei Ohrringe zu tragen.
»Harald wurde übrigens nach seinem Tod noch eine Schnittwunde zugefügt. Zuerst dachte man, es wäre eines der neueren Tattoos, aber dann stellte sich heraus, dass ein Symbol, das einer magischen Rune ähnelt, in seine Brust geritzt wurde.« Matthias zog einen Stift aus der Tasche seines Jacketts und griff nach einer hellen Serviette. Er zeichnete das Symbol und zeigte Dóra dann die Serviette. »Dieses Symbol ist unbekannt. Zumindest ist es der Polizei nicht geglückt, etwas darüber herauszufinden, deswegen hat der Mörder es sich vielleicht einfach an Ort und Stelle ausgedacht. Möglicherweise wurde er gestört und hat das Symbol nicht richtig hingekriegt. Es ist nicht leicht, in Haut zu ritzen.«
Dóra nahm die Serviette und betrachtete das Symbol. Es bestand aus vier Linien, die einen Kasten bildeten, eine Art Mühle. Die Enden der Linien, die über den Kasten hinausragten, wurden jeweils von einer kurzen Linie gekreuzt. Im Inneren des Kastens befand sich ein Kreis, von dem wiederum eine Linie ausging, an deren Ende ein Halbkreis gezeichnet war.
Dóra gab Matthias die Serviette zurück. »Mit magischen Runen kenne mich leider nicht aus. Ich hatte mal eine Rune als Kettenanhänger, aber ich kann mich nicht erinnern, was sie bedeuten sollte.«
»Wir müssen mit jemanden sprechen, der sich damit auskennt. Wer weiß, ob die Polizei nicht einfach zu schnell aufgegeben hat.«
Matthias riss die Serviette in kleine Stückchen. »Irgendwas muss sich der Mörder jedenfalls dabei gedacht haben. Die meisten wollen nur so schnell und so weit wie möglich wegkommen, wenn sie einen Mord begangen haben.«
»Vielleicht ist der Mörder geisteskrank«, schlug Dóra vor. »Es zeugt ja wohl nicht gerade von seelischem Gleichgewicht, Runen in eine Leiche zu ritzen und ihre Augen herauszuschneiden.« Sie schüttelte sich. »Oder er stand unter Drogen. Was allerdings auf den armen Jungen hindeuten könnte, der im Knast sitzt.«
Matthias zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Aber vielleicht auch nicht. Wir müssen ihn jedenfalls so bald wie möglich im Gefängnis besuchen.«
»Ich setze mich mit seinem Anwalt in Verbindung«, entgegnete Dóra. »Er wird einem Gespräch bestimmt zustimmen und sollte außerdem froh sein, uns helfen zu können. Wenn es uns gelingen sollte, den wirklichen Mörder zu finden, entlasten wir schließlich seinen Mandanten. Ich habe der Polizei bereits einen Antrag auf Herausgabe der Ermittlungsunterlagen zukommen lassen.«
Matthias nahm sich noch einen Happen und schaute auf die Uhr. »Was halten Sie davon, in Haralds Wohnung vorbeizufahren? Ich habe die Schlüssel, und die Polizei hat schon einen Teil der Sachen, die sie bei der Durchsuchung mitgenommen hatte, wieder zurückgebracht. Wir könnten einen Blick darauf werfen; vielleicht bringt uns das weiter.«
Dóra fand die Idee gut. Sie schickte ihrem Sohn eine SMS und bat ihn, seine Schwester direkt nach Schulschluss im Hort abzuholen. Dóra hatte ein besseres Gefühl, wenn sie wusste, dass ihre Tochter zu Hause war. Daher beauftragte sie manchmal ihren Sohn. Als Dóra gerade erst die Sendetaste betätigt hatte, erschien schon Gylfis Antwort. Sie öffnete die Nachricht und las. »OK — wann kommst du nach Hause?« Dóra schrieb sofort zurück, sie komme gegen sechs. Ob es pure Einbildung war, dass Gylfi in letzter Zeit ziemlich großes Interesse daran hatte, wann genau sie nach Hause käme? Vielleicht wollte er einfach nur in Ruhe sein Computerspiel spielen. Jedenfalls fragte er auffallend häufig danach.
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