Als sie endlich beim Labortrakt angekommen waren, drehte sich Matthias zum ersten Mal um, seit sie das Auto verlassen hatten. Er starrte entgeistert auf den Schal um ihren Kopf. Dóra konnte sich gut vorstellen, wie elegant sie aussah, was er bestätigte, indem er die Augenbrauen hochzog und bemerkte: »Hier gibt es bestimmt eine Damentoilette, die Sie aufsuchen können.«
Dóra hielt sich zurück, obwohl sie große Lust hatte, ihm etwas an den Kopf zu werfen. Stattdessen schaute sie ihn nur grimmig an und wuchtete die Eingangstür auf. Drinnen steuerte sie auf eine Frau zu, die ein leeres Stahlwägelchen vor sich herschob, und fragte sie, wo der Arzt zu finden sei, den sie treffen wollten. Nachdem die Frau sich erkundigt hatte, ob der Arzt sie erwarte, wies sie auf ein Büro am Ende des Ganges. Sie bat die beiden, noch einen Moment vor der Tür zu warten, da der Arzt noch bei der morgendlichen Besprechung sei. Dóra und Matthias setzten sich auf zwei verschlissene Stühle an der Wand des Ganges.
»Ich wollte Sie nicht beleidigen. Entschuldigung«, sagte Matthias, ohne Dóra anzuschauen.
Dóra hatte wenig Interesse daran, mit ihm über ihr Aussehen zu diskutieren, und reagierte nicht. Sie wickelte sich den Schal so würdevoll wie möglich vom Kopf und legte ihn in ihren Schoß. Dann nahm sie einen Stapel abgegriffener Zeitschriften von einem kleinen Tischchen zwischen den Stühlen.
»Wer liest so was eigentlich?«, murmelte sie beim Durchblättern des Stapels.
»Ich glaube, wer hierher kommt, ist nicht auf der Suche nach Lesestoff«, antwortete Matthias. Er saß kerzengerade auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin.
Dóra legte die Zeitschriften irritiert beiseite. »Nein, vielleicht nicht.« Sie schaute auf die Uhr und bemerkte ungeduldig: »Wo bleibt der Mann eigentlich?«
»Er wird schon kommen«, war die knappe Antwort. »Ich mache mir allerdings gewisse Sorgen wegen Ihnen und dieser Unterredung.«
»Was meinen Sie?«, fragte sie gereizt.
»Ich glaube, es wird äußerst unangenehm für Sie«, antwortete er und wendete sich ihr zu. »Sie haben keine Erfahrung mit so etwas und ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee war. Am besten erzähle ich Ihnen, was Sie erwartet.«
Dóra sah ihn scharf an. »Ich habe zwei Kinder zur Welt gebracht, mit den dazugehörigen Schmerzen und Blut und Nachwirkungen und Schleim und Gott weiß was. Ich werde das schon überleben.« Sie verschränkte die Arme und drehte sich von ihm weg. »Was haben Sie denn eigentlich alles vollbracht?«
Matthias schien nicht begeistert von Dóras großartigem Erfahrungsreichtum zu sein. »So einiges. Ich möchte Sie lieber damit verschonen; im Gegensatz zu Ihnen habe ich kein Bedürfnis, mich selbst zu beweihräuchern.«
Dóra verdrehte die Augen. Dieser Deutsche war nicht gerade eine Stimmungskanone. Sie beschloss, lieber den »Wachturm« zu studieren, als das Gespräch mit ihm fortzuführen. Sie hatte einen Artikel über den schlechten Einfluss des Fernsehens auf die Jugend der Welt zur Hälfte gelesen, als ein Mann in einem weißen Kittel durch den Gang auf sie zueilte. Er war um die sechzig, hatte graue Schläfen und war sonnengebräunt. Um seine Augen zogen sich weiße Lachfältchen, und Dóra stelle sich vor, er habe sich in der Sonne gut amüsiert.
»Guten Tag«, sagte der Mann und reichte ihnen seine Hand. »þráinn Hafsteinsson.«
Dóra und Matthias grüßten zurück und stellten sich vor.
»Treten Sie ein«, sagte der Arzt auf Englisch, damit Matthias ihn verstand, und öffnete die Tür zu seinem Büro. »Entschuldigt, dass ich so spät bin«, fügte er auf Isländisch an Dóra gerichtet hinzu.
»Kein Problem«, entgegnete sie. »Da draußen liegen so viele interessante Zeitschriften; ich hätte gern noch ein bisschen länger gewartet.« Sie lächelte ihn an.
Der Arzt warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Ja, stimmt.« Sie betraten das Büro. An den Wänden waren Regale mit Fachbüchern und allen möglichen Zeitschriften und dazwischen standen Aktenschränke. Der Arzt ging zu einem großen, aufgeräumten Schreibtisch, setzte sich und bot ihnen zwei Stühle an. »Also dann.« Während er dies sagte, presste er seine Hände gegen den Schreibtischrand, wie um den eigentlichen Beginn der Sitzung einzuläuten. »Ich schlage vor, wir sprechen Englisch.«
Dóra und Matthias nickten.
Er fuhr fort: »Ich habe in Amerika studiert. Deutsch dagegen habe ich seit meiner mündlichen Abiturprüfung nicht mehr gesprochen und möchte Sie damit lieber verschonen.«
»Wie ich Ihnen am Telefon bereits gesagt habe, ist Englisch wunderbar«, sagte Matthias, wobei Dóra sich bemühte, nicht über seine harte deutsche Aussprache zu lachen.
»Gut«, entgegnete der Arzt und griff nach einem gelben Ordner, der zuoberst auf dem Papierstapel auf dem Tisch lag. »Ich sollte mich wohl zunächst dafür entschuldigen, wie lange es gedauert hat, die Erlaubnis zu bekommen, Ihnen den gesamten Obduktionsbericht zu zeigen.« Er lächelte entschuldigend. »Die Bürokratie ist bei diesen Dingen immer ungeheuerlich, und es ist oft unklar, wie man auf so ungewöhnliche Umstände wie in diesem Fall reagieren soll.«
»Ungewöhnlich?«, bemerkte Dóra.
»Ja«, antwortete der Arzt. »Ungewöhnlich deshalb, weil die Angehörigen einen Bevollmächtigten bestimmt haben, der die Ergebnisse der Obduktion erhalten soll, wobei es sich auch noch um einen ausländischen Staatsbürger handelt. Zeitweise dachte ich, der Tote müsse den Antrag persönlich unterschreiben, damit die Erlaubnis gewährt wird.« Er lächelte ihnen wieder zu.
Dóra erwiderte dieses Lächeln höflich, wobei sie aus den Augenwinkeln sah, dass Matthias’ Gesicht erstarrt war.
Der Arzt wendete seinen Blick ab und fuhr fort. »Tja, nicht nur der darauf folgende Papierkrieg machte diesen Fall zu einem ganz besonderen. Das sollte Ihnen klar sein, bevor wir beginnen.« Der Arzt blickte sie an und lächelte wieder. »In der Tat eine der merkwürdigsten und außergewöhnlichsten Obduktionen, die ich je gemacht habe, und ich habe während meines Studiums im Ausland schon allerhand gesehen.«
Dóra und Matthias schwiegen und warteten, wobei Dóra viel wissbegieriger wirkte als Matthias, der zur Salzsäule erstarrt war.
Der Arzt räusperte sich und öffnete den Ordner. »Wir sollten dennoch mit den Dingen beginnen, die man als einigermaßen normal bezeichnen kann.«
»Unbedingt«, stieß Matthias hervor, während Dóra versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie wollte lieber das Außergewöhnliche hören.
»Also, die Todesursache ist Ersticken durch Blockierung der Atemwege«, erklärte der Arzt und tippte leicht auf den Aktenordner. »Wenn wir fertig sind, gebe ich Ihnen eine Kopie des Obduktionsberichts, wenn Sie möchten. Bei der Todesursache geht es vor allem darum, wie der Tote erstickt wurde, und zwar glauben wir, dass das mit einem Stoffgürtel geschehen ist, nicht mit einem Ledergürtel. Der Täter muss dabei sehr viel Kraft angewendet haben, denn die Wunde am Hals ist beträchtlich. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass der Druck länger andauerte, als eigentlich nötig war, um das Opfer außer Gefecht zu setzten, aus welchem Grund auch immer — vermutlich blinder Hass oder Raserei.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Dóra.
Der Arzt stöberte in der Mappe und holte zwei Fotos hervor. Er legte sie vor sich auf den Tisch und schob sie dann zu Dóra und Matthias. Sie zeigten Haralds stark verwundeten Hals. »Wie Sie sehen, ist die Haut an den Rändern der Würgemale stellenweise eingedrückt und von der Reibung versengt. Dies deutet darauf hin, dass der Gegenstand eine raue Oberfläche und keine gleichmäßige Form hatte. So wie die Wunde aussieht, muss er ungleichmäßig breit gewesen sein.« Der Arzt hielt inne, während er auf das andere Foto zeigte. »Bemerkenswert sind auch die Anzeichen einer älteren Wunde weiter unten am Hals, bei weitem nicht so schlimm, aber dennoch beachtenswert.« Er schaute die beiden an. »Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
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