Bevor Dóra das Handy beiseitelegte, rief sie im Büro an, um auszurichten, sie sei in der nächsten Zeit nicht zu erwarten. Niemand nahm ab; stattdessen sprang der Anrufbeantworter nach dem fünften Klingeln an. Dóra hinterließ eine Nachricht und legte auf. Zu Bellas Hauptaufgaben gehörte der Telefondienst, aber bei den wenigen Malen, die Dóra im Büro anrufen musste, wurde nur selten abgenommen. Dóra seufzte. Sie wusste, dass es nichts bringen würde, das Thema schon wieder mit dieser Schnepfe von Sekretärin zu diskutieren. »Okay, ich bin so weit«, sagte sie zu Matthias, der die Zeit genutzt hatte, um seine Mahlzeit zu beenden. Dóra kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter, bevor sie aufstand und ihren Mantel anzog.
Sie gingen zur Theke, wo Matthias die Rechnung bezahlte, bevor sie das Café verließen. Er betonte, dass alles auf Kosten der Familie Guntlieb ging. Dóra war sich nicht sicher, ob er das sagte, damit sie bloß nicht glaubte, er habe sie eingeladen und es handele sich um ein Rendezvous, oder ob es einfach eine reine Information war. Sie nickte nur beiläufig und bedankte sich.
Sie traten hinaus in die Kälte und gingen zum Parkhaus, in dem sie den Mietwagen geparkt hatten. Haralds Wohnung lag in der Bergstaðastræti, nicht weit von dem Café in der Hverfisgata entfernt. Dóra kannte sich gut im þingholtviertel aus, seit sie im Skólavörðustígur arbeitete. Sie konnte Matthias ohne Schwierigkeiten den Weg zeigen — obwohl das Viertel nicht groß war, verfuhr man sich in den engen Gassen schnell, wenn man sich nicht auskannte. Sie parkten direkt vor einem ehrwürdigen, weißen Steinhaus, einer der begehrenswertesten Immobilien im ganzen Viertel. Das Haus war gut gepflegt; Dóra konnte seinen Wert schwer einschätzen. Dies erklärte zumindest die Schwindel erregend hohe Miete, die sie in Haralds Mietvertrag gesehen hatte.
»Waren Sie schon mal in der Wohnung?«, fragte Dóra, als sie zum Seiteneingang des Hauses gingen. Der Haupteingang befand sich an der Straßenseite und führte zu der zweiten Wohnung im Parterre, wo die Hauseigentümer wohnten.
»Ja, sogar mehrmals«, antwortete Matthias. »Bisher war allerdings immer die Polizei dabei. Jemand musste bezeugen, dass sie Unterlagen und Gegenstände für Ermittlungszwecke mitnahmen und später wieder zurückbrachten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir die Wohnung wesentlich genauer durchsuchen werden als die Polizei. Sie hatten sich schon auf Hugi als Täter eingeschossen und die Wohnung nur noch zum Schein untersucht.«
»Ist die Wohnung denn genauso ungewöhnlich wie ihr ehemaliger Bewohner?«, wollte Dóra wissen.
»Nein, sie ist sehr gewöhnlich«, antwortete Matthias und steckte einen der beiden Schlüssel ins Haustürschloss. Die Schlüssel waren an einer kleinen isländischen Flagge als Schlüsselanhänger befestigt, und Dóra schloss daraus, dass er in einem der Touristenläden in der Stadt extra für diese Schlüssel gekauft worden war. Sie konnte sich Harald nicht so recht bei einer Shoppingtour zwischen Wollpullis und Stoffpapageientauchern vorstellen.
»Hereinspaziert!«, rief Matthias und öffnete die Tür.
Bevor Dóra eintreten konnte, kam eine junge Frau um die Straßenecke gelaufen. Sie rief ihnen in nahezu fehlerfreiem Englisch etwas zu. »Entschuldigen Sie«, japste sie und zog ihren kurzen Pullover nach unten, um sich vor der Kälte zu schützen. »Kommen Sie von Haralds Familie?«
Matthias reichte ihr die Hand und sagte auf Englisch: »Ja, guten Tag, wir sind uns schon mal begegnet, als ich die Schlüssel von Ihnen bekommen habe. Matthias.«
»Ja, das dachte ich mir«, entgegnete die Frau, schüttelte Matthias die Hand und lächelte. Sie war sehr attraktiv, schlank, mit schicker Frisur und gepflegtem Teint, eindeutig aus besseren Kreisen. Als sie lächelte, sah Dóra, dass die Frau wahrscheinlich nicht mehr ganz so jung war, wie sie aussah, denn um ihren Mund und ihre Augen bildeten sich kleine Fältchen. Die Frau gab auch Dóra die Hand. »Guten Tag, ich heiße Guðrún«, stellte sie sich vor und fügte dann hinzu: »Mein Mann und ich waren Haralds Vermieter.«
Dóra nannte ihren Namen und entgegnete Guðrúns Lächeln. »Wir wollten uns nur mal kurz umschauen. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.«
»Oh, kein Problem«, sagte die Frau schnell. »Ich bin nur rausgekommen, um zu fragen, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt, wann die Wohnung geräumt wird.« Sie lächelte wieder, jetzt entschuldigend. »Wir haben ein paar Anfragen, Sie verstehen.«
Dóra verstand das eigentlich nicht, denn soweit sie informiert war, zahlten die Guntliebs immer noch die Miete, und es musste ein Glücksfall sein, eine Wohnung zu diesem Preis zu vermieten, ohne irgendwelchen Ärger mit einem Mieter zu haben. Sie wendete sich Matthias zu, der die Frage der Frau möglicherweise beantworten konnte.
»Das wird leider noch dauern«, antwortete er kurz angebunden. »Der Mietvertrag besteht ja weiter, wenn ich Sie bei unserem letzten Gespräch richtig verstanden habe.«
Die Frau entschuldigte sich eilig. »Doch, doch — verstehen Sie mich bitte nicht falsch — das tut er. Wir würden nur gern wissen, wann die Guntliebs ihn voraussichtlich kündigen werden. Es handelt sich um eine teure Wohnung und es ist nicht so leicht, einen solventen Mieter zu finden.« Die Frau schaute Dóra Hilfe suchend an. »Wir haben nämlich ein Angebot von einer dieser internationalen Firmen, das wir nicht ausschlagen möchten. Sie brauchen die Wohnung für zwei Monate, deshalb möchten wir wissen, was Sie vorhaben. Sie verstehen bestimmt, was ich meine.«
Matthias nickte. »Ich verstehe ihr Problem, aber ich kann Ihnen im Moment leider nichts versprechen«, sagte er. »Es hängt alles davon ab, wie schnell wir Haralds Sachen durchsehen können. Ich möchte sichergehen, dass nichts in Kisten verpackt wird, was von Bedeutung sein könnte.«
Die Frau, die nun vor Kälte bibberte, nickte eifrig. »Wenn ich etwas tun kann, um die Sache voranzutreiben, lassen Sie es mich bitte wissen.« Sie reichte ihnen die Visitenkarte einer Importfirma, die Dóra nicht kannte. Darauf standen der Name der Frau sowie mehrere Telefonnummern, darunter auch eine Handynummer.
Dóra fischte ihre eigene Karte aus ihrem Portemonnaie und reichte sie der Frau. »Nehmen Sie auch meine. Sie oder Ihr Mann können mich anrufen, wenn Ihnen etwas einfällt, das uns vielleicht weiterhelfen könnte. Wir versuchen, Haralds Mörder ausfindig zu machen.«
Die Frau riss die Augen auf. »Was ist denn mit dem Mann, den die Polizei festgenommen hat?«
»Wir haben unsere Zweifel daran, dass er der Mörder ist.«
Dóra merkte, wie die Frau bei dieser Neuigkeit erschrak. Deshalb fügte sie schnell hinzu: »Ich glaube, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen — wer auch immer es ist, er wird wohl kaum hierher kommen.« Sie lächelte.
»Nein, darum geht es nicht«, winkte die Frau ab. »Ich dachte nur, der Fall sei abgeschlossen.«
Sie verabschiedeten sich voneinander, und Dóra und Matthias betraten das warme Haus. Im Flur führte eine weiß gestrichene Treppe zur Wohnung in der oberen Etage. Es gab noch eine weitere Tür, die laut Matthias zur gemeinsamen Waschküche führte. Sie stiegen die Treppe hinauf und auf dem Treppenabsatz nahm Matthias den Schlüsselbund mit dem Souveniranhänger und schloss die Wohnung auf.
Das Erste, was Dóra auffiel, als sie über die Türschwelle trat, war, dass Matthias stark untertrieben hatte, als er die Wohnung als »sehr gewöhnlich« bezeichnet hatte. Verwundert schaute sie sich um.
Gunnar Gestvík, Leiter der Historischen Fakultät der Universität Islands, ging mit energischen Schritten durch den Gang zum Büro der Direktorin des Árni-Magnússon-Instituts, wobei er abwesend einem jungen Historiker zunickte, der ihm unterwegs begegnete. Der junge Mann lächelte mitfühlend, und Gunnar wurde schon wieder an seine neu gewonnene Berühmtheit in der Universität und den einzelnen Instituten erinnert. Kaum jemand schien vergessen zu haben, dass er derjenige war, dem die Leiche von Harald Guntlieb in die Arme gefallen war, geschweige denn seinen darauf folgenden Nervenzusammenbruch. Man konnte sagen, dass er noch nie so große Beliebtheit genossen hatte. Die wenigsten, die jetzt einen Umweg in Kauf nahmen, um sich mit ihm zu unterhalten, zählten zu seinen Freunden. Dieser Zustand würde natürlich vorübergehen, aber er hatte es weiß Gott satt, die dummen Fragen der Leute zu beantworten und ihre Neugier zu befriedigen. Er verabscheute den Gesichtsausdruck derjenigen, die sich ein Herz fassten, um ihre Trauer über den verfrühten Tod des jungen Mannes und Mitgefühl für Gunnar auszudrücken, denn es kam immer etwas ganz anderes dabei heraus. Ihre Gesichter glühten vor Sensationslust und Erleichterung darüber, dass ihnen dies nicht selbst passiert war. Hätte er vielleicht doch den Rat des Rektors befolgen und sich einen zweimonatigen Forschungsurlaub nehmen sollen? Er war sich nicht sicher. Das Interesse der Leute würde nach einer gewissen Zeit vielleicht nachlassen, aber am Ende sowieso wieder aufflammen, sobald der Fall vor Gericht käme. Wenn er freinähme, würde er lediglich das Unumgängliche hinauszögern. Zu allem Überfluss entstünde dann eine Quelle für endlose Klatschgeschichten: Er säße in einer Nervenheilanstalt, würde zu Hause stinkbesoffen vor sich hin dämmern oder noch Schlimmeres. Nein, vermutlich war es die richtige Entscheidung, den Urlaub abzulehnen und das Ganze über sich ergehen zu lassen. Die Leute würde das Thema früher oder später langweilen und sie würden sich wie üblich von Gunnar fern halten.
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