Chrissie, einfühlsam wie sie war und so schwer es ihr wahrscheinlich gefallen war, hatte sich unter dem Vorwand, dass sie sich nicht wohl fühle, zum Schloss fahren lassen. Marie-Claire hätte sie dafür umarmen können. Sie hatte sehr wohl bemerkt, wie vernarrt Christiane in Sanjay war. Aber Chrissie hatte schnell erkannt, dass Marie-Claire sich danach sehnte, mit Sanjay alleine zu sein, und dass sie störte. Sie hatte für sich entschieden, jegliches Misstrauen gegenüber Sanjay Kasliwal fallen zu lassen. Während des Mittagessens war sie zu dem Schluss gekommen, dass er ihr in Berlin doch die Wahrheit erzählt hatte. Er reiste durch Europa auf der Suche nach antiken Büchern, nach alten Quellen – nach allem, was seine Neugier an den religiös-mythologischen Aspekten von Edelsteinen stillen konnte. Und er war von dem Wunsch beseelt, die drei Diamanten, die Tränen Gottes aus jener legendären Statue wieder nach Indien zurückzubringen.
Sanjay Kasliwal hatte mit seiner Arbeit als Schmuckhändler viel Reichtum angehäuft, aber dennoch schien Geld nicht das Wichtigste in seinem Leben zu sein. Darin schien er sich von seinem Bruder Pappu zu unterscheiden, von dem er soeben erzählte. Marie-Claire hatte Pappu Kasliwal damals in Berlin im Wintergarten des Hotels nur kurz zusammen mit Sanjay erlebt. Er hatte auf sie den Eindruck eines eher unscheinbaren Mannes gemacht. Lediglich sein unsteter, nervöser Blick war ihr aufgefallen. Allerdings hatte sie damals bereits das Gefühl gehabt, dass die beiden Brüder sich nicht besonders gut verstanden. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie zu haben schienen, war das Polospiel. Sanjay sah nachdenklich aus, während er über seine Familie in Indien und über sein Verhältnis zu Pappu sprach.
»Pappu ist anders als ich, Marie-Claire. Die Götter haben ihm die Gier als Bürde für sein Leben in die Wiege gelegt! Seine Geschäftsmethoden sind sehr umstritten. Er ist sehr egoistisch, oft auch skrupellos!«
»Sie mögen ihn nicht sonderlich, oder?« Marie-Claire hatte das Gefühl, solche Fragen stellen zu dürfen. Sie merkte, dass Sanjay über dieses Thema nicht gerne sprach, aber sie fühlte auch, dass es ihn belastete.
»Vieles von dem, was Pappu macht, ist mit dem Ehrenkodex meiner Familie nicht in Einklang zu bringen! Mein verstorbener Vater, die Götter mögen seiner Seele gnädig sein, hat Ehre über jegliches weltliche Verlangen gestellt. Er hat danach gelebt. So wie auch der Vater meines Vaters danach gelebt hat. Und er hat meinen Bruder und mich in diesem Geiste erzogen. Aber Pappu weiß nicht, was Ehre ist. Er wird gesteuert von einer grenzenlosen Gier nach Reichtum. Er lässt sich blenden von dem Glanz eines Diamanten. Das innere Feuer eines Edelsteins ist für ihn eine Flamme, die ihn verzehrt. Pappu liebt das luxuriöse Leben, liebt sündhaft teure Luxushotels, schnelle Autos und aalt sich in dem Ruf, der unserer Familie anhaftet, legendär reich zu sein. Ja, Pappu ist anders.«
»Streitet ihr euch deswegen?«, fragte Marie-Claire.
»Nein, nicht wirklich. Nicht mehr! Früher hatten wir öfters Auseinandersetzungen wegen geschäftlicher Belange. Er stellt den hohen Profit über die Zufriedenheit eines Kunden. Pappu würde dir einen Kieselstein als Edelstein verkaufen, wenn du selbst es nicht merken würdest. Ihm ist es egal, was Kunden denken. Er liebt es, Geld anzuhäufen.«
Sanjay blieb stehen. Er schaute nachdenklich zu den Alpen auf der anderen Seite des Sees. Dann lachte er laut.
»Pappu ist wie dieser Dagobert Duck, diese Comicfigur, die es liebt, auf Goldbergen zu sitzen, Dukaten zu scheffeln und sich Böses auszudenken, um noch mehr davon zu bekommen. Wenn Pappu diese legendäre Statue mit dem darin verborgenen Schatz besäße, er würde nicht ein einziges Karat davon an unser Volk abgeben. Pappu würde es einfach so sehen, dass dieser Schatz unseren Vorfahren gehörte – und damit auch ihm. Aber lassen wir das. Es ist ein unrühmliches Thema. Und es ist irrelevant. Die Statue wird wohl immer verschlossen bleiben. Zwei der drei Diamanten, zwei der Tränen Gottes sind weg – verschwunden. Die Göttin Sita scheint zu wissen, dass es nicht gut ist, wenn die Statue wieder geöffnet würde. Vielleicht spielt sie Pappu damit einen Streich.«
Marie-Claire blickte Sanjay fasziniert an. Obwohl es erst ihr zweites Zusammentreffen war, war er ihr unendlich vertraut. Er schien ebenso zu empfinden, denn er ließ sie an seinen tiefsten Empfindungen teilhaben. Sanjay war stehen geblieben und schaute Richtung Grandson. Marie-Claire folgte seinem Blick und versuchte, von den heiklen familiären Dingen abzulenken.
»Wie meinen Sie das eigentlich, Sanjay? Wieso gibt es Ihrer Einschätzung nach eine enge Verbindung zwischen den Geschehnissen hier am See und jenen in Ihrer Heimat?«
»Wenn Sie sich mit der Geschichte einiger der berühmtesten Schmuckstücke und Diamanten der Welt beschäftigen, Marie-Claire, stoßen Sie ausnahmslos auf berühmte Adelsgeschlechter Europas. Aber auch auf berühmte Handelshäuser. Sie werden in den Wappen dieser Häuser und Herrscher auffallend oft schwarzhäutige Menschen finden! Sie müssen sich vor Augen halten, dass sich der Reichtum und damit der Einfluss dieser Handelshäuser und der Aristokraten maßgeblich auf den Kontakt und den Handel mit dem Mohrenland begründete. Unter dem Mohrenland verstand man schon immer Afrika und das Morgenland, also auch Indien. Als die Portugiesen den Seeweg nach Afrika suchten, stießen sie, nach der Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung, auf die ostafrikanischen Städte Mombasa und Malindi. Dort kamen sie dahinter, dass seit Jahrtausenden Schiffe zwischen Indien und Ostafrika verkehrten. Damit war der Seeweg von Europa über Afrika nach Indien entdeckt. Der Handel mit dem Mohrenland begann – und das machte nicht zuletzt Fugger, Welser und viele italienische Handelshäuser reich.«
Marie-Claire hörte ihm fasziniert zu. Warum er ihr all das erzählte und wo da ein Zusammenhang mit Grandson, mit dem Florentiner bestand, war ihr jedoch noch nicht klar.
»Sardinien hat zum Beispiel gleich vier Mohren in seinem Wappen. Korsika führt auch Mohren im Wappen. Der berühmte deutsche Bischof Otto von Freising hat sich das Recht, einen Mohren im Wappen zu tragen, mit seiner Teilnahme am zweiten Kreuzzug verdient. Und was ich erst seit einigen Tagen weiß, der neue deutsche Papst Ratzinger, also Benedikt XVI., hat links oben auch einen Mohren in seinem Wappen! Ist doch interessant, oder? Ein wenig vereinfacht ausgedrückt ließe sich also sagen: Die Verbindung des Abendlandes zum Mohrenland und auch die Kreuzzüge waren die wirtschaftliche Basis des unvorstellbaren Reichtums der europäischen Handels- und Herrscherhäuser. Und der Reichtum des Papstes begründet sich wohl auch darauf! Meine Heimat Indien gehörte zum Mohrenland, und in der Diktion der damaligen Zeit bin auch ich ein Mohr! Aus meinem Land stammen fast all jene Diamanten, die Karl der Kühne hier, genau hier, wo wir jetzt stehen, am Ufer des Lac de Neuchâtel, bei sich trug. Aus meinem Land stammen die berühmten ›drei Brüder‹, die Karl der Kühne besaß. Mein Bestimmung ist es, sie zu finden.«
Sanjay Kasliwal drehte sich um und blickte auf die Auen und die dahinter steil ansteigenden Hügel.
»Das da drüben ist das Kloster von La Lance. Und der Ort dort hinten ist wohl Concise. Somit, liebe Marie-Claire, stehen wir genau auf jenem Schlachtfeld, auf dem am 2. März 1476 die zwanzigtausend Soldaten von Karl dem Kühnen den achtzehntausend der Schweizer Eidgenossen gegenüberstanden. Genau hier, Marie-Claire, begann der Untergang des Burgundischen Reiches. Und genau hier hatte Karl der Kühne sein Lager aufgebaut. Als er von den Schweizern überrannt wurde, ließ er all seine Reichtümer zurück. Vierhundert Wagenladungen Beute machten die Schweizer, darunter unvorstellbare Schätze, Waffen und Ausrüstungsgegenstände. Alles zusammen soll diese Beute damals eine Millionen Gulden wert gewesen sein! Sie wissen ja, Marie-Claire, dass Karl der Kühne eine ungewöhnlich pompöse Hofhaltung liebte. Er nahm seinen unermesslich wertvollen Schatz stets mit auf die Schlachtfelder. Wahrscheinlich weil er es gewohnt war, immer als Sieger von dannen zu ziehen. Zumindest bis zu jenem 2. März des Jahres 1476, dem Tag ….«
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