Dass Sanjay sich diese einfache Pension ausgesucht hatte, zeigte Marie-Claire, dass der reiche Schmuckhändler aus Jaipur alles andere als kapriziös oder anspruchsvoll war. Das schlichte, dreigeschossige Haus mit den griechischblauen Fensterläden war für das kleine Örtchen Grandson sowohl Bar, Restaurant, Pension wie auch Feinkostladen. Und das Essen war tatsächlich exzellent. Eine Speisekarte gab es nicht, dafür aber eine Hausherrin, die sowohl Köchin als auch historisch bewanderte Gesellschaftsdame war. Wie sie den köstlichen Rehbraten mit Rotkraut und Knödeln so schnell herbeigezaubert hatte, gab sie nicht preis. Marie-Claire kam zu dem Schluss, dass es wohl das Mittagessen der Familie war, das ihnen da aufgetischt wurde.
Der Mittag in dem Gasthof verlief so unglaublich entspannt, dass Marie-Claire nicht glauben wollte, diesen Mann erst seit kurzer Zeit zu kennen, ihn erst ein einziges Mal, damals in Berlin, getroffen zu haben. Christiane schien von Sanjay maßlos begeistert zu sein. Ihre Blicke ließen keine Zweifel aufkommen, dass sie Sanjay anhimmelte, aber sie hatte Stil genug, es nicht zu deutlich zu zeigen. Ihr herzliches Lachen und ihre offene Art zu plappern trugen maßgeblich dazu bei, dass sie sich schnell die zweite Flasche Wein bestellten und sich in zwanglosen Plaudereien verloren. Dann ging Sanjay plötzlich zu seinem Wagen und kehrte mit einem kleinen Päckchen zurück.
»Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag, Marie-Claire! Ich habe Ihnen als kleine Aufmerksamkeit ein Buch mitgebracht, das ich erst vor wenigen Tagen auf einer Auktion erwerben konnte. Es ist ein sehr altes Buch, mit vielen alten Wahrheiten, die so beständig sind wie Diamanten! Ich hoffe, es macht Ihnen viel Freude, darin zu lesen. Da Sie sicherlich Latein können, werden Sie danach vielleicht ein wenig besser verstehen, warum ich fest davon überzeugt bin, dass die wahre Bedeutung eines Edelsteins nicht in dem materiellen Wert, den ihm die Gegenwart beimisst, liegt, sondern in seiner Kraft und Energie aus der Vergangenheit.«
Gerührt von Sanjays Worten öffnete Marie-Claire das Päckchen. Ihr Atem stockte, als sie das offensichtlich sehr alte, leicht stockfleckige, aber noch in exzellentem Zustand befindliche Buch mit den herrlichen Holzdrucken aufschlug. Es war die Coronae Gemma Nobilissima des Wilhelmus E. Newheusern aus dem Jahre 1621. Ein philosophischer Exkurs über die Beziehung zwischen Planeten, Sternen, Edelsteinen – und dem Menschen. Es war eindeutig ein Original. Vorne eingelegt steckte ein zusammengefalteter Bogen Briefpapier. Sie öffnete ihn. Er trug Sanjays persönlichen Briefkopf mit seiner Anschrift in Jaipur. Unter seine liebevollen Geburtstagswünsche hatte er ein Zitat geschrieben:
Und also werden die Edelsteine
von Feuer und Wasser erzeugt,
deshalb haben sie auch Feuer und Wasser und
viele Kräfte und Wirkungen in sich …
» Physica « von Hildegard von Bingen (1098 – 1179)
Marie-Claire errötete. Sanjay lächelte sie an. Auch er schien ein wenig verlegen zu sein. Christiane versuchte zu verbergen, dass sie am liebsten heulen würde.
»Das kann ich nicht annehmen, Sanjay! Ich kenne dieses Buch nicht, aber ich ahne, wie unvorstellbar wertvoll es ist. Es muss Sie ein Vermögen gekostet haben!«
»Ja, Marie-Claire, es hat ein Vermögen gekostet. Aber eben nur eins. Und ich habe, Gott verzeihe mir diesen Hochmut, glücklicherweise noch genug von diesem Vermögen, das ich für das einzusetzen gedenke, was mich wirklich bewegt. Mein Verlangen, nicht-irdischen, mystischen Dingen auf den Grund zu gehen und sie zu verstehen, ist ungezügelt. Früher habe ich viel Geld für edle Pferde und für das Polospiel ausgegeben. Jetzt, da mein garstiges Bein mir zuweilen den Dienst versagt, gebe ich Geld für Gedanken aus, die andere Menschen in anderen Zeiten aufgeschrieben haben. Bücher sind meine neue Leidenschaft! Zumindest diese Leidenschaft scheinen wir bereits zu teilen. Ich hoffe, nein, ich weiß daher, dass Sie dieses Buch mit Respekt und mit der Bereitschaft lesen werden, Dinge zu erfahren, deren Sein wir nicht beweisen können. Aber ich ahne, dass Sie längst spüren, dass nicht im Beweis das Wissen um die Existenz liegt. Im Glauben, Marie-Claire, das haben mich schon in jungen Jahren meine Eltern und Großeltern gelehrt, liegt mehr Weisheit als im Wissen! Und deswegen freue ich mich schon heute auf den Tag, da Sie anfangen werden mir davon zu erzählen, was in diesem Buch geschrieben steht. Ich kann nämlich leider kein Latein.«
Es dauerte ein bisschen, bis Marie-Claire die rührenden Worte von Sanjay Kasliwal in ihrer ganzen Tragweite verstanden hatte. Nachdem sie das Restaurant verlassen hatten, fuhren sie an den See, um dort spazieren zu gehen. Erst dort wurde ihr bewusst, was Sanjay gesagt hatte: »Zumindest diese Leidenschaft scheinen wir bereits zu teilen …« Sie begriff, dass dies seine Art war, Hoffnung auszudrücken. Ohne Frage: Sanjay mochte sie sehr – und sie mochte ihn.
»Wissen Sie, Marie-Claire, dieser Abstecher an diesen See hat für mich eine tiefe Bedeutung. Ich war früher, während meiner Internatszeit in der Schweiz, noch nicht wissbegierig und weitsichtig genug, um zu erkennen, dass sich in diesem Teil Europas, hier um den Lac de Neuchâtel herum, so unendlich viele Berührungspunkte zu meinem Leben und zu dem meiner Vorfahren finden. Hier wurde abendländische Geschichte geschrieben, aber abendländische Geschichte war auch über viele Jahrhunderte untrennbar verbunden mit der Geschichte meiner Heimat – mit Indien.«
Marie-Claire blieb verwundert stehen und blickte Sanjay Kasliwal fragend an. Die Nachmittagssonne ließ ihre letzten wärmenden Strahlen über den See gleiten und brachte den dunklen Teint Sanjays besonders intensiv zur Geltung. Das sanfte Winterlicht ließ ihn ungemein gut aussehen. Seit sie das kleine Restaurant verlassen hatten, um nahe des Sees in den Auen spazieren zu gehen, nahm sie immer deutlicher wahr, dass er ein sehr attraktiver Mann war. Seine Attraktivität zeigte sich nicht in Äußerlichkeiten. Sie erwuchs aus der Einheit seines Charmes mit seinem Charisma und seiner unendliche innere Stärke signalisierenden Körperhaltung. Alles, was Sanjay war, kam von innen. Marie-Claire überkam eine wunderbare Ruhe, eine Ausgeglichenheit, die sie gehofft hatte hier in Grandson zu finden. Sie erschrak ein wenig, als sie an die zurückliegenden Wochen dachte. Drei Männer waren in kürzester Zeit in ihr Leben getreten. Gregor von Freysing hatte sie nach den Geschehnissen am Wörthersee zwar noch einmal angerufen. Indirekt hatte er eingestanden, dass er etwas überreagiert habe, aber für sie hatte es halbherzig geklungen. Die unüberbrückbare Kluft, die seit dem Wochenende am Wörthersee zwischen ihnen bestand, war am Telefon schnell spürbar geworden. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sich hinter der Fassade des charmanten und gebildeten Grandseigneurs in Wirklichkeit doch ein erzkonservativer Mann verbarg, dessen Lebenseinstellung so gar nicht mit ihrer eigenen in Einklang zu bringen war. Zudem irritierte sie nach wie vor seine undurchschaubare Verbindung zu den ultrakonservativen Rittern vom Goldenen Vlies. Sein plötzliches Desinteresse am Florentiner war ebenfalls verwunderlich. Angeblich hatten seine Auftraggeber ihn angewiesen, ab sofort jegliche Recherche über den Verblieb des Diamanten einzustellen. Man wollte sich von den kriminellen Geschehnissen um den Florentiner distanzieren. Marie-Claire fiel es schwer, ihm zu glauben. Nach diesem Telefonat hatte sich Gregor nicht mehr gemeldet. Auch von Abdel Rahman hatte sie seit ihrer gemeinsamen Nacht in Wien nichts mehr gehört. So überraschend, wie er in ihr Leben getreten war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Sie machte sich darüber seltsamerweise keine Gedanken mehr. Sein Versuch, das Buchmanuskript zu erwerben, war fehlgeschlagen. Wahrscheinlich war er deshalb längst wieder abgereist. Die Nacht mit ihr war für ihn offenbar nichts anderes als ein nettes Abenteuer gewesen. Nein, sie dachte nicht mehr an diese beiden Männer, schob die Gedanken an die Turbulenzen der letzten Zeit beiseite. Sanjay strahlte eine derart faszinierende Ruhe aus, dass sie am liebsten eine Mauer um sich herum gebaut hätte, um sich vor jeglichen irritierenden Einflüssen zu schützen. Gemeinsam mit Sanjay wollte sie diese Ruhe auskosten. Erneut spürte sie, dass dieses Verlangen keinerlei sexuellen Aspekte in sich barg.
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