»Was soll das? Wenn du einen Mann fürs Bett brauchst, dann geh nach Hause zu deinem stinkreichen Gatten. Oder such dir deinen Lover irgendwo anders. Aber verschwinde und lass uns in Ruhe!«
Cathrine de Vries starrte ihre Schwester fassungslos an. So hatte Marie-Claire noch nie mit ihr geredet. Ihre Augen glänzten unnatürlich. Plötzlich lachte sie hämisch.
»Übernimm dich nur nicht, Schwesterlein! Hast doch drei Männer zur Auswahl: den Inder, deinen Gregor – und nun auch noch einen Araber! Keiner von denen scheint dir gut genug zu sein! Obwohl, für Araber hattest du ja schon immer ein Faible. Bei dem da kann ich dich sogar verstehen.«
Marie-Claire spürte, wie sie vor Erregung zitterte. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie ihre Schwester so abgefertigt! Es war ihr unangenehm, aber es tat auch gut. Dennoch wollte sie ihre Worte relativieren. Sie sah, wie betroffen Cathrine war. Bevor sie etwas sagen konnte, drehte sich Cathrine weg.
»Ich hole mir noch was zu trinken. Verabschieden darf ich mich ja wohl noch von deinem Omar Sharif, oder …?«
Als Cathrine wenige Minuten später mit einem Glas Glühwein zurückkam, stand Abdel wieder neben Marie-Claire.
»Monsieur, ich hoffe, Sie sehen mir nach, wenn ich mich jetzt verabschiede. Ich habe zu Hause einen treuen Ehegatten, der sehnsüchtig auf mich wartet. Aber wenn Sie wieder einmal in Wien sein sollten und meine liebe Schwester Marie-Claire aus irgendwelchen Gründen keine Zeit haben sollte, können Sie mich gerne anrufen. Wäre mir eine große Freude, Ihnen dann mal Wien von seinen schönsten Seiten zu zeigen.«
Wie vom Donner gerührt starrte Marie-Claire ihre Schwester an. Sprachlos sah sie zu, wie Cathrine in ihre Handtasche griff, eine Visitenkarte hervorzog und sie Abdel reichte.
»Rufen Sie mich einfach an. Wann immer Sie möchten. Au revoir, Monsieur Abdel. Ciao, Schwesterchen.«
Wenige Augenblicke später schloss Cathrine de Vries ihren nahe des Volksgartens geparkten Wagen auf. Sie weinte, weil sie sich schämte, ihre Schwester so schlecht behandelt zu haben. Und sie fühlte sich grenzenlos einsam und allein. Die silbergraue Limousine auf der anderen Straßenseite nahm sie kaum wahr. Es war ein Fahrzeug mit Wiener Kennzeichen. Ein Mann und eine Frau saßen in dem Wagen. Dann fuhr Cathrine weg. Der Mann am Steuer des Fahrzeugs nahm ein Funkgerät in die Hand und sagte: »Schwester der Zielperson fährt stadteinwärts. Sollen wir dranbleiben?«
Es geschah aus Trotz und aus Verzweiflung. Im ersten Moment nach dem Disput mit ihrer Schwester hatte Marie-Claire de Vries überlegt, sich von Abdel Rahman zu verabschieden. Ihre Laune war auf einem Tiefpunkt angelangt. Sie war stinksauer auf Cathrine. Hin- und hergerissen sah Marie-Claire Abdel an.
Ein wenig enttäuscht war sie schon, dass er so bereitwillig auf Cathrines Flirten eingegangen war. Die Blicke, mit denen er den Körper ihrer Schwester gemustert hatte, waren ihr nicht entgangen. Was wollte dieser Abdel Rahman eigentlich? Ihre Schwester, sie oder doch nur den Florentiner? Zum ersten Mal in ihrem Leben traf Marie-Claire schließlich eine Entscheidung, die sich gezielt gegen ihre Schwester richtete. Sie wusste, dass sie eifersüchtig war und dass ihre Reaktion kindisch war, aber sie wollte nicht zurückstecken, sondern das tun, was sie sich den ganzen Tag über vorgenommen hatte.
»Ich habe Hunger«, leitete sie ihr Vorhaben vermeintlich unbedarft ein, griff nach seiner Hand und schmiegte sich ein wenig an seine Schulter. »Außerdem wird mir der Rummel hier zu viel. Diese Menschenmassen sind grauenhaft. Lass uns irgendwohin gehen, gemütlich essen und plaudern. Erzähl mir ein bisschen von dir.«
Marie-Claire hoffte, dass er ihre versteckte Andeutung richtig deuten würde. Der Platz vor dem Rathaus hatte sich tatsächlich merklich mit Besuchern gefüllt. Die Romantik der ersten Stunde war einem hektischen Treiben gewichen. Abdel reagierte wie erhofft. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie kaum spürbar an sich.
»Ja, lass uns das machen! Auch ich würde gerne mehr von dir erfahren. Ich glaube, dass es viele Dinge gibt, die uns verbinden. Zu viel Zeit haben wir dafür nicht, ich muss bald wieder zurück nach Marokko …«
Marie-Claire blieb einen Moment stehen. Sie sah hinauf zu den erleuchteten Fenstern des Rathauses. Jedes Fenster war wie ein Weihnachtskalender verschlossen und mit einer Zahl versehen. Mit jedem Tag, mit dem sich Heiligabend näherte, wurde ein Fenster geöffnet. Es waren noch knapp zwei Wochen. Eine grenzenlose Einsamkeit überfiel sie. Weihnachten! Wo würde sie Weihnachten sein? Wieder allein zu Haus oder, aus Angst davor, bei Cathrine? Oder würde sie noch einmal eine dieser grauenhaften Reisen unternehmen, auf denen sie sich noch einsamer als zu Hause in ihrer Wohnung fühlte?
»Wir gehen zu mir, bestellen uns beim Italiener was zu essen und vergessen, was morgen sein wird – okay?«
Abdel Rahman wandte sich langsam zu ihr um und blickte sie an, drang mit seinem Blick tief in ihre Seele. Er griff in ihr langes Haar, schob es zur Seite und gab ihr einen sanften Kuss auf den Halsansatz. Seine Lippen berührten ihre Haut kaum, aber sein warmer Atem ließ sie zittern. Er spürte es.
»Wir können auch später noch essen gehen …«
Es gab kein Später. Es gab kein Essen. Und es gab weder Zeit noch Raum. Was geschah, als sie in ihrer Wohnung über dem Donaukanal ankamen, ließ keinen Platz für Worte. Weder sie noch er wollten sprechen. Sie wollten nichts voneinander wissen. Keiner fragte den anderen, wo er herkam und wo er hinwollte. Das Gestern war vergessen und an das Morgen dachten sie nicht, weil sie ihre Vernunft im Aufzug zu Marie-Claires Wohnung zurückgelassen hatten. Marie-Claire fühlte sich wie in Trance. Was um sie herum geschah, nahm sie nur über schemenhafte Bilder wahr: der Aufzug, die Wohnungstür, ihr verdunkeltes Schlafzimmer, das nur von den Sternen diffus erhellt wurde. Ihre Seele war verzaubert, ihr Körper hypnotisiert. Der Gedanke, dass sie noch nie bereit gewesen war, sich einem fremden Mann hinzugeben, huschte wie ein Wetterleuchten an ihr vorbei. Angst durchzuckte sie nur in jenem Augenblick, als er ihr die Bluse mit einem kräftigen Ruck zerriss. Doch sie verflog, als er sie nicht mit seinen starken Händen auf ihr Bett zwang, sondern seine Lippen über ihre Brüste gleiten ließ, sie sanft nach hinten drängte und sie spürte, dass es zärtliche Gewalt war. Nein, es war keine Gewalt! Es war Dominanz. Er bestimmte über sie, ohne es zu sagen. Und sie ließ es geschehen und genoss es. Sein Körper dirigierte sie hin zu jenem Abgrund, an dem es kein Zurück, sondern nur das Fallenlassen gab. Die Umrisse seines nackten Oberkörpers zeichneten sich gegen das von außen erhellte Fenster ab. Sie sah wenig und fühlte mit ihren Händen doch, wie muskulös und männlich sein Körper war. Sie sah seine Augen nicht, aber sie wusste, dass er ihre Augen sehen konnte. Marie-Claire schloss sie. Seine Stimme klang sanft, aber auch fordernd. Sie duldete keinen Widerspruch und erwartete keine Antwort.
»Ich muss Ihnen die Augen verbinden, Marie-Claire! So, wie Sie mich anschauen, bliebe mir nichts anderes, als Ihre Seele zu lieben. Das möchte ich nicht! Nicht heute! Erst morgen.«
Marie-Claire erschauerte. Er siezte sie! Warum? Mit geschlossenen Augen folgte sie den Geräuschen. Sein Hemd raschelte. Sie hörte, wie er es zerriss. Seine Hände hoben ihren Kopf zärtlich an. Er band ihr mit einem Teil seines Hemdes die Augen zu. Um sie herum war die Nacht. Alle Geräusche waren jetzt sehr gedämpft. Sie hörte seinen Atem nicht mehr, aber sie spürte ihn, wie er warm und schnell und gierig von ihrem Hals über die Schulter über ihren nackten Oberkörper glitt. Plötzlich verharrte er. Sie wollte nicht, dass er aufhörte. Sie wollte, dass er dort, wo sein heißer Atem soeben ihren Unterleib zum Beben gebracht hatte, weitermachte, mit seinen Zähnen ihren Rock zerriss. Aber er tat es nicht.
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