Neben ihm standen Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann von Interpol und sein deutscher Kollege vom Bundeskriminalamt. Die beiden würde er gleich brauchen. Sie schauten ihn erwartungsvoll an. Die Observation hatte ergeben, dass er noch schlief. Im Objekt befanden sich insgesamt acht Personen. Hinzu kam das Hauspersonal. Oberst Semouri nahm das Funksprechgerät in die Hand. »Zugriff!«, flüsterte er.
Freiherr Georg von Hohenstein bekam fast einen Herzinfarkt, als die Tür zu seiner Suite im Palais Rhoul mit einem unvorstellbar lauten Knall, begleitet von grellen Blitzen und gefolgt von dichten Qualmwolken, aus der Angel flog. Er lag im Bett und war von der schlaflosen Nacht völlig erschöpft. Panisch riss er die Arme schützend vor sein Gesicht, wollte sich aus dem Bett aufrichten und fliehen. Mehrere Männer in dunklen Tarnanzügen hechteten auf ihn zu und fixierten ihn mit ihren Körpern. Er konnte ihren Schweiß riechen. Alle waren maskiert. An ihren Augen sah er, dass es Araber waren. Sie waren bereit zu töten. Er hatte solche Augen vor nicht allzu langer Zeit bei sich zu Hause auf seinem Schloss an der Donau gesehen. Solche Augen würde er nie wieder in seinem Leben vergessen. Die Araber pressten ihn aufs Bett. Die Mündungen ihrer Pistolen und Maschinenpistolen waren auf seinen Kopf gerichtet. Er hatte Todesangst und war sich sicher, dass dies sein Ende sein würde. Dann hörte er eine seltsame Stimme.
»Herr Freiherr von Hohenstein … Sie brauchen keine Angst zu haben! Kleimann … Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann ist meine Name. Diese Männer werden Sie jetzt loslassen. Dann werden Sie Ihre Koffer packen, werden uns aus diesem wunderschönen Tausendundeine-Nacht-Palast hinausbegleiten und in ein Flugzeug steigen, das wir Ihnen bereitgestellt haben. Sie werden zu Ihrer Frau fliegen und sich um sie kümmern. Sie wissen ja seit dem Anruf gestern, dass ihre Frau aus dem Koma erwacht ist. Sie braucht Ihre Hilfe, Ihre Liebe! Sie braucht keinen Killer an ihrer Seite! Sie, Herr von Hohenstein, werden Ihre höchst eigentümliche Golfausrüstung samt der Carbonpfeile hier lassen! Sie werden mit niemandem über all das hier sprechen. Auch nicht mit Ihrer Frau! Und wir werden auch mit niemandem darüber sprechen, wenn Sie sich an diese Regeln halten. Wenn nicht, verschwinden Sie mindestens zwanzig Jahre in einem marokkanischen Gefängnis irgendwo in der Wüste.«
Georg von Hohenstein war erschüttert. Er brach zusammen.
Er weinte und schüttelte sich vor Entsetzen und vor Freude. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er die Augen wieder öffnen und ein Wort sagen konnte. Die Männer mit den Waffen waren weg. Die aufgesprengte Tür seiner Suite lag mitten im Raum. Es roch nach verbranntem Holz. Es waren nur noch drei Männer anwesend. Der deutsche Kriminalhauptkommissar trat an sein Bett. Ein arabisch aussehender Mann mit sehr grimmigem Gesichtsausdruck stand neben ihm.
»Kennen Sie diesen Mann?«, fragte der Deutsche und hielt ihm ein grausiges Farbfoto entgegen. Der Kopf des Mannes, der da abgelichtet worden war, ließ keine Zweifel aufkommen, dass es ein Toter war. Georg von Hohenstein kannte ihn.
»Ja«, schluchzte er entsetzt, »ich kenne diesen Mann. Er hat … er hat … mich und meine Frau auf unserem Schloss überfallen. Und er hat meine Frau …«
»Ich weiß, was dieser Mann getan hat, Herr von Hohenstein. Wir alle wissen es. Wir wissen auch, was Sie vorhatten. Der Provinzgouverneur von Ouarzazate hat die Beamten vom marokkanischen DST auf Sie aufmerksam gemacht. Er hat sich gefragt, wieso Sie ein Zielfernrohr für die Jagd auf Niederwild brauchen. Schnepfen schießt man bekanntlich mit Schrot! Seien Sie froh, dass es Ihnen nicht gelungen ist, Ihren Plan durchzuführen. Sie wären hier in einem marokkanischen Gefängnis verrottet. Aber was Sie planten, Herr von Hohenstein, haben gestern andere vollendet! Wer es war, wissen wir nicht genau. Mein marokkanischer Kollege Oberst Semouri geht davon aus, dass es ein persönlicher Racheakt war. Ein Mann in einem blauen Gewand wurde in Tatortnähe gesehen. Solche Gewänder werden von den Tuareg getragen. Und Oberst Semouri sagte mir, dass die Tuareg bekannt sind für ihre brutalen Vorgehensweisen, wenn sich jemand an ihre Frauen heranmacht. Wie auch immer: Fakt ist, dass dieser Mann hier auf dem Bild, vermutlich der Marokkaner Faisal Jawda, tot ist. Seit gestern. Jemand hat ihm mit einem Schwert den Kopf vom Rumpf getrennt. Mit einem Schlag. Es heißt, es sei ein Targi gewesen. Fußabdrücke am Tatort von ledernen Sandalen sprechen für diese These.«
Francis Roundell war außer sich vor Wut. Und er war im höchsten Maße beunruhigt. Er legte sein Handy zur Seite und starrte aus dem Fenster. Seit Tagen war London von einer grauen Nebeldecke verhüllt. Seine Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Und jetzt auch noch dieser Anruf! Alles lief völlig anders, als es geplant war. Sein kriminalistischer Spürsinn sagte ihm, dass da unbekannte Kräfte am Werk waren. Kräfte, die er absolut nicht einzuschätzen vermochte. Das störte sein Streben nach Perfektion. Mehr noch jedoch beunruhigte ihn die Tatsache, dass er sich die Geschehnisse in Marrakesch überhaupt nicht mit eventuellen Aktivitäten von Polizeiorganisationen oder Geheimdiensten erklären konnte. Es gab keinerlei plausible Erklärungen für die aufgetretenen Probleme. Der Tod eines Mannes aus ihrer Gruppe war eher harmlos gewesen. Jedenfalls waren die Meldungen in der Presse und die kurzen Verlautbarungen seitens der marokkanischen Polizei nicht dazu angetan, nervös zu machen. Irgendein Verrückter, so wie es aussah ein Wüstennomade in blauem Gewand, hatte Faisal Jawda geköpft. Traf es zu, was die marokkanischen Behörden behaupteten, war Faisal Opfer eines Zwistes mit einem Targi, einem Stammesmitglied der Tuareg, geworden. Als Hintergrund vermutete man den persönlichen Rachefeldzug eines eifersüchtigen Mannes. Das war zwar unangenehm, denn dieser Faisal war aufgrund seines Organisationstalents und seiner exzellenten Kontakte zu Behörden eine große Hilfe für die Gruppe gewesen. Er hatte nahezu alle gefälschten Pässe, Visa und legalen Kreditkarten einer marokkanischen Bank auf verschiedene Namen besorgt. Gott sei Dank hatte es sich für ihr ganzes Unternehmen nicht negativ ausgewirkt, dass er in Deutschland so ausgerastet war und diese Frau vergewaltigt hatte. Für den weiteren Verlauf der Aktion war er zu ersetzen. Insofern musste er mit dem Tod Faisal Jawdas seinen Plan nicht ändern.
Mit dem Tod von Ibrahim, von dem er erst heute Nacht erfahren hatte, verhielt es sich allerdings ganz anders. Ein Toter war eine Sache. Zwei Tote innerhalb so kurzer Zeit, das roch nach einem Zusammenhang. Und genau den konnte Francis Roundell beim besten Willen nicht erkennen. Zumal Ibrahim auf höchst ungewöhnliche Weise getötet worden war. Zumindest ungewöhnlich für Marokko! Dieser seltsame Tod war der Grund, warum er in seinem Büro in der Christie’s-Zentrale so nervös umherlief. Irgendjemand hatte Ibrahim in der Nähe des Hotels Palmeraie aufgelauert und ihn mit einer Drahtschlinge erwürgt. Mit einer Drahtschlinge! In Marokko war das so ungewöhnlich, dass dieser Mord auf den Titelseiten der Zeitungen gestanden hatte. Eine einzige Zeile in einem der Zeitungsberichte hatte ihn ins Grübeln gebracht. Das Töten mit einer Drahtschlinge war ein Modus Operandi, den jeder Polizist in Europa kannte. Die Mafia wandte diese Methode gerne an. Zwischen Täter und Opfer gab es immer eine Beziehung. Täter und Opfer kannten sich. Nur so war es möglich, dass der Täter nahe genug an den zum Tode Verurteilten herankam, um ihn dann von hinten mit einer Drahtschlinge zu strangulieren. Eine grausame Form, denn in vielen Fällen waren diese Drahtschlingen so konstruiert, dass sie sich, waren sie einmal zusammengezogen, nicht mehr mit Muskelkraft öffnen ließen. Der feine Draht schnitt sich in den Hals des Opfers ein und der zum Tode Verurteilte starb unendlich langsam.
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