»Marie-Claire«, hörte sie ihn plötzlich sagen, während im Hintergrund ein Pianospieler Beethovens Mondscheinsonate zu spielen begann, »Sie sollten wissen, dass viele Menschen in Indien zu den materiellen Seiten unseres irdischen Daseins eine eher metaphysische Einstellung haben! Der wahre Wert eines Edelsteins liegt für uns daher tief verborgen. Für mich entscheidet nicht der materielle Wert über dessen Schönheit, sondern die Farbe des Steins und sein Verschmelzen mit der Fassung, mit den irdischen Gegebenheiten bringen seine Einzigartigkeit hervor! Daher freue ich mich auch, dass sich die Zeiten in Europa und in Amerika allmählich wandeln. Diamanten werden hier zwar nach wie vor wegen ihres Wertes und der Wertbeständigkeit gekauft, faktisch ist es jedoch so, dass immer mehr Menschen Schmuck unter Modeaspekten erwerben. Und Mode ist nun einmal eine Frage von Stil und Design, also eine Frage der Schönheit.«
Marie-Claire atmete tief durch. Sanjay katapultierte sie schon den ganzen Abend mit solchen Aussagen in neue geistige Dimensionen. Und das gefiel ihr. Es entsprach ihrem persönlichen Denken und Fühlen, ihren Neigungen, was er so perfekt auszudrücken verstand. Bei ihrer Arbeit hatten solche Aspekte freilich kaum Bestand.
»Aber Sie handeln mit diesen Steinen, Sanjay! Für Sie als Schmuckhändler werden Edelsteine nach realen Kriterien eingeschätzt und in ihrem Wert bestimmt! Sie orientieren sich doch daran, ob es nun ein lupenreiner Diamant ist, also einer ohne nur mittels Zehnfach-Lupe erkennbare Einschlüsse, oder ob es ein VS2, also einer mit schwer erkennbaren Einschlüssen ist. Und da Gewicht und Größe eines Diamanten nun mal in einer berechenbaren Abhängigkeit zueinander stehen, so dass von dem Durchmesser auf das Karat-Gewicht geschlossen werden kann, bleibt letztendlich nur noch die Frage nach dem Cut, also dem Schliff, der den Wert des Steins für den Händler ergibt. In den Händen des Diamantenschleifers wird dann aus dem Diamanten entweder ein quadratischer Princess, ein ovaler Marquise, ein runder Brillant oder ein perlenförmiger Pear. Das sind doch die Kriterien, die den Wert eines Diamanten für Sie ausmachen! Für Sie sind sie eine Ware, leblose Materie – oder?«
»Das ist nicht ganz richtig, Marie-Claire. Immer mehr Menschen kommen zu uns und bitten um die Anfertigung eines Schmuckstücks, bei dem es nicht um die Frage Diamant, Rubin, Saphir oder Smaragd geht. Diese Menschen orientieren sich an Farben. Sie sehen in dem unverwechselbaren Licht, das in jedem Halb- oder Edelstein verborgen liegt, eine größere Bedeutung als in dem Wert eines Diamanten, dessen Preis sich letztendlich an Details orientiert, die sich erst unter der Lupe zeigen, also für das menschliche Auge mehr oder minder unsichtbar sind. Mir gefällt es, wenn Kunden sagen, sie möchten eine Halskette mit Steinen in einer bestimmten Farbe oder ein Arrangement bestimmter Farben, akzentuiert mit einem Edelstein, dessen Schönheit sich nicht allein an seiner Reinheit orientiert. Sich der Schönheit und Einmaligkeit dieses Schmuckstücks bewusst zu sein ist bedeutsamer als das Benennen eines Preises. Solche Menschen sind mir lieber als jene, die kommen und einen Einkaräter in ›slightly tinted white‹ wollen.«
Die Natürlichkeit dieses Mannes begeisterte Marie-Claire. Er hatte nichts Kapriziöses. So, wie er sich gab, so sprach er auch über Edelsteine. Sanjay hielt regelmäßig Schmuckstücke von unvorstellbarem Wert in der Hand und besaß sie auch. Dennoch schien er völlig immun gegen weltliche Werte, war ganz Ästhet und gestand Edelsteinen offensichtlich eine Art inneren Wert und Bedeutung zu.
Plötzlich wirkte Sanjay sehr ernst. Fast unangenehm lange schaute er ihr in die Augen.
»Marie-Claire, Sie sind eine Frau, die weiß, was ich denke, was ich fühle. Sie wissen es – und Sie verstehen es! Denn auch Sie haben mit Ihrem Beruf etwas zum Inhalt Ihres Lebens gemacht, das neben den schnöden materiellen Aspekten viel Seele in sich trägt. Das, und nicht nur das, verbindet uns. Deswegen möchte ich Ihnen von einer indischen Überlieferung erzählen, die Ihnen helfen möge, mich noch besser zu verstehen. Denn das, Marie-Claire, würde meiner Seele sehr schmeicheln …«
Fasziniert von der Ruhe, mit der Sanjay Kasliwal sprach und sie dabei so unglaublich tiefgründig anschaute, glaubte Marie-Claire für Momente, sie müsse erröten. Aber sie fühlte, dass das nicht geschah. Sie hatte nur eine Erklärung dafür: Vertrauen! Ja, zu diesem Menschen hatte sie Vertrauen, etwas, das sie noch nie in ihrem Leben gehabt hatte. Schon gar nicht zu einem Mann …
Sanjay lächelte. Sie hatte das Gefühl, er habe ihre Gedanken gelesen. Sie lehnte sich im Sessel zurück und signalisierte damit, dass Sie ihm zuhören wollte.
»In meiner Heimat, Marie-Claire, sagt man, dass Diamanten die Tränen Gottes sind. Denn nur so ist für uns dieses einzigartige, unverwechselbare und in seinem Farbspektrum kosmisch-schöne innere Feuer, das ein jeder Diamant in sich trägt, zu erklären. Und weil dem so ist, wurden Diamanten immer wieder als Augen von Götterstatuen verwendet.«
Marie-Claire stockte der Atem. Sie ahnte, ja wusste, was jetzt kommen würde.
»Beim Untergang der Maharadscha-Reiche versteckten meine Vorfahren ihre heiligen Schätze, den Familienschmuck, Edelsteine und uns heilige Insignien, im Inneren einer hohlen Statue. Sie war mehrere Meter hoch, aus dem Fels herausgeschlagen und somit auf immer mit dem Fels verbunden. Die Statue war so schwer, dass selbst fünfzig Männer sie nicht hätten wegtragen können. Drei Augen hatte diese Statue – drei große, ungewöhnlich reine Diamanten. Diese drei Tränen Gottes waren mit einem nur wenigen Familienangehörigen bekannten Mechanismus kombiniert. Nur wenn die Sonne an einem ganz bestimmten Tag im Jahr in einem bestimmten Winkel über dieser Statue stand, wenn das Licht der Sonne durch die drei Diamanten hindurch ins Innere der Statue fiel, ließ sich dieses Heiligtum öffnen. Denn jeder Diamant hat, wie Sie selbst ja wissen, ein unverwechselbares inneres Feuer, das sich aus dem Licht des Tages nährt. Und so war vorbestimmt, dass nur die Träger dieses Geheimnisses, ehrwürdige Männer unserer Familie, in der Lage sein würden, dieses Heiligtum zu öffnen, wenn Gottes Zeichen ihnen kundtun würde, es zu tun. Und damit keine Schurken, keine Unwürdigen sich mit Gewalt Zugang zum Inneren dieser Statue verschaffen konnten, war diese Statue mit einem zweiten Mechanismus versehen, der alles Irdische zerstört, würde der Steinkoloss gewaltsam geöffnet werden.«
Marie-Claire wurde von Gefühlen und Gedanken übermannt. Sie hatte von dieser Götterstatue schon gehört – vor wenigen Wochen erst. Francis Roundell hatte bei ihrem Treffen im Café Landtmann in Wien davon gesprochen und diese Geschichte als Legende bezeichnet. Und er hatte sie im Zusammenhang mit dem Florentiner erzählt! Nun saß ein Mann vor ihr, dessen Aura sie völlig verwirrte, und erzählte ihr genau diese Legende, die ganz offensichtlich keine Legende war. Zaghaft fragte sie: »Warum erzählen Sie mir all das, Sanjay?«
»Weil ich spüre, nein, ich weiß, Marie-Claire, dass Ihr und mein Karma in einer wundersamen Weise dazu auserkoren sind, den Willen des Schöpfers mit Leben zu erfüllen, seinen Wunsch zu erfüllen!«
»Seien Sie mir bitte nicht böse, Sanjay«, flüsterte Marie-Claire de Vries, »Ihr Vertrauen, Ihre Herzlichkeit und Ihre Worte verwirren mich. Ich verstehe all das nicht!«
Sanjay Kasliwal lächelte sie voller Herzenswärme an.
»Ich kann, ich darf Ihnen leider nicht alles erklären, Marie-Claire. Es hat mit einem Traum, mit einer Prophezeiung zu tun, die mein Großvater, der Allmächtige sei seiner Seele gnädig, hatte. Träume sind Geschenke Gottes. Man darf nicht darüber reden, denn dann verflüchtigen sie sich. Aber man muss ihnen folgen. Sie, Marie-Claire, müssen dieser Prophezeiung nicht folgen, aber Sie könnten es, Sie können mir helfen, den Traum, die Prophezeiung zu erfüllen – wenn Sie es wollen.«
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