Marie-Claires Handy klingelte. Erstaunt schaute sie erst ihre Schwester Cathrine an und blickte dann auf die Uhr. Es war fast halb eins in der Nacht! Auf dem Display erkannte sie die Nummer ihres Chefs Francis Roundell.
»Auch das noch …«, schluchzte sie. Sie fühlte sich absolut nicht in der Lage, jetzt mit Francis zu reden. Sie hatte selbst vor einigen Stunden, kurz nach der Festnahme, versucht, ihn zu erreichen, in der Hoffnung, er könne ihr in der sehr misslichen Situation helfen. Daher hatte sie nun keine Wahl, als sein Gespräch entgegenzunehmen. Sie holte schnell tief Luft, trank einen Schluck Wein und klappte dann das Handy auf.
»Hallo, Francis! Nett, dass Sie noch so spät in der Nacht anrufen. Ja, soweit ist alles in Ordnung. Es gab nur ein sehr unangenehmes Zusammentreffen mit Beamten von der österreichischen Staatssicherheit.«
Marie-Claire erzählte ihrem Chef von der Festnahme im Kreuzgang der Deutschordenskirche, von ihrer sensationellen Entdeckung im Zusammenhang mit dem Vlies-Orden, erwähnte Gregor von Freysing und erzählte von ihrem Versuch, zu erkunden, ob er zu diesem Orden gehörte. Sie berichtete von den beiden Sicherheitsbeamten, die sie mit vorgehaltener Pistole abgeführt und wie eine Schwerverbrecherin in Handschellen in ein Zimmer des Deutschordens gebracht hatten, wo sie von einer Kollegin der beiden peinlich genau durchsucht worden war.
»Ja, natürlich ich habe denen sofort gesagt, dass ich als freiberufliche Fotografin für das Auktionshaus Christie’s an einer Dokumentation über berühmte Ritterorden in Europa arbeite«, antwortete sie auf Francis’ Frage. »Nein, nein … keine Angst, ich habe nichts von den beiden Sancys gesagt und auch nicht über den Florentiner gesprochen«, schluchzte sie in ihr Handy.
Francis schien nicht sonderlich überrascht, geschweige denn betroffen zu sein. Ungerührt stellte er ihr Fragen, ließ sie reden, hakte nach und schien so gar nicht nachvollziehen zu können, welche Ängste sie hatte durchstehen müssen.
Verdammt noch mal, dachte sie, wie kann ein Mensch nur so gefühlskalt sein? Ich hasse ihn, durchzuckte es sie plötzlich. Ja, ich hasse diese völlig abgeklärte Art vom ihm. Es war nicht das erste Mal, dass sie über diesen Charakterzug von Francis Roundell stolperte. Menschliche Aspekte schienen ihn absolut nicht zu interessieren. Er funktionierte wie ein Uhrwerk: gefühllos, professionell. War das Ergebnis der Arbeit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Erachtens erstklassig, gab er sich extrem großzügig und erging sich in Lobeshymnen. Aber das war nur gespielt, eine perfide Art, seinen Leuten eine optimale Leistung abzuverlangen. Für Francis zählte nur das Ergebnis. Die Mittel und Wege waren ihm egal. Mit Vorliebe spielte er den großen Moralisten, den stilvollen Gentleman: charmant, gebildet – jovial! Letztendlich aber war er bereit, für ein Ziel – für sein Ziel – über Leichen zu gehen. Eigentlich, und diese Erkenntnis erschütterte Marie-Claire, eigentlich weißt du das schon lange. Aber du hast es nicht wissen wollen, hast es verdrängt – wie so vieles in deinem Leben.
Dann kam die Frage, die kommen musste. Verlegen hüstelte sie ins Handy. Spontan entschied sie sich zu lügen. Sie log und hatte das Gefühl, lügen zu müssen, als er sie fragte, wieso sie so schnell aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden war.
»Ich habe denen einen Auktionskatalog von Christie’s gezeigt, den ich im Auto hatte. Da stand mein Name im Editorial drin. Und ich habe ihnen außerdem gesagt, dass ich nicht absichtlich in die Kirche eingedrungen, sondern versehentlich dort eingeschlossen worden sei, aber aus reiner Neugierde nicht auf mich aufmerksam gemacht hätte. Das haben sie mir geglaubt und mich dann entlassen.«
Marie-Claire sah, wie ihre Schwester Cathrine die Augen verdrehte und ihr wild gestikulierend einen Vogel zeigte. Sie musste lächeln. Wieder einmal staunte sie darüber, wie unglaublich ähnlich sie sich sahen, besonders, wenn sie lachten. Es war wahrhaftig nicht zu übersehen, dass sie eineiige Zwillingsschwestern waren. Mit heftigen Gesten bedeutete sie ihrer Schwester, sich ruhig zu verhalten. Francis sprach noch immer. Mit Schrecken fiel ihr bei seinen Worten ein, dass sie in drei Tagen im Schloss Charlottenburg in Berlin einen Vortrag über berühmte Edelsteine im Schmuck der preußischen Könige halten musste.
»Ja, Francis, ich habe den Diavortrag noch einmal überarbeitet! Ja, ich werde natürlich nicht auf die beiden gestohlenen Sancys eingehen«, beschwichtigte sie ihn und war froh, dass er wenig später das Telefonat beendete. Sofort begann ihre Schwester wie eine Furie zu schimpfen.
»Bist du total bescheuert? Das war dein Chef! Du kannst doch deinem Chef nicht verheimlichen, was da heute passiert ist! Und schon gar nicht, was vielleicht noch passieren wird!«
Marie-Claire atmete tief durch. Das Gespräch mit Francis Roundell hatte ihr viel Selbstbeherrschung abverlangt, doch das war das Allerletzte, wonach ihr derzeit war. Die Flut von Informationen über die Ritter vom Goldenen Vlies, diese höchst eigentümlichen Verbindungen zwischen den gestohlenen Sancy-Diamanten und dem Florentiner, all das hatte sie in den letzten Tagen mitgerissen, ohne dass sie bisher Zeit gefunden hatte, das alles logisch zu ordnen. Zu Hause stapelten sich mittlerweile Dutzende Bücher und Dossiers über die Diamanten, über den Vlies-Orden, über Karl den Kühnen, Maria de Medici, Marie-Antoinette und über die Habsburger. Zum Lesen war sie aber kaum gekommen. Sie wusste nicht mehr so recht, wo ihr der Kopf stand. Das war vor der Zeremonie der Vlies-Ritter in der Kirche schon so gewesen und das war jetzt, nach den Geschehnissen in der Deutschordenskirche, noch viel schlimmer. Sie war froh, dass sich Cathrine bereit erklärt hatte, sie mitten in der Nacht abzuholen, dass sie heute bei ihr schlafen konnte. Zu allem Überfluss war sie emotional völlig aufgewühlt. Seit Gregor von Freysing zu der Vernehmung durch die Beamten des Staatsschutzes hinzugekommen war, stand ihre Gefühlswelt Kopf. Ja, sie stand Kopf! Marie-Claire ahnte, dass dies erst der Anfang war. Die Worte von Cathrine rissen sie aus ihrer Nachdenklichkeit.
»Du bist schlichtweg zu ehrlich, Schwesterlein! Es ist zum Kotzen! Immer und immer wieder passiert dir das! Das ist zwar ein sehr ehrenwerter und heutzutage höchst seltener Charakterzug, aber irgendwann musst du doch mal lernen, dass Emotionen zwar was Wunderschönes sind, sich aber in den Händen der falschen Männer schnell zu einem Bumerang für dich entwickeln. Am Ende deiner Träumereien von der großen Liebe stand bislang ausnahmslos das Chaos, dein Zusammenbruch! Das hast du nun schon so oft erlebt, und dennoch verfällst du immer wieder in die gleichen Verhaltensweisen, sobald ein auch nur halbwegs passabler Mann am Horizont auftaucht. Langsam zweifle ich an deinem Verstand!«
»Wenn du ihn sehen würdest, Cathi«, unterbrach Marie-Claire ihre Schwester, »wüsstest du, warum ich so durchgeknallt bin, als er plötzlich im Vernehmungszimmer stand. O Gott, was wird er wohl gedacht haben? Ich dämliches Huhn werde vom Staatsschutz wie eine Terroristin abgeführt und durchsucht, stehe halb nackt da im Büro des Deutschordens – und genau in dem Moment kommt er rein und sagt nur einen einzigen Satz: ›Noch immer auf der Suche nach der verlorenen Konzertkarte?‹ Weißt du, Cathi, wie ich mich in diesem Augenblick gefühlt habe? Weißt du das? Du hast keine Ahnung – weil du nicht weißt, wie er mich dabei angeschaut hat! Hast du auch nur annähernd eine Idee, wie puterrot mein Kopf wurde? Mein Herz ist mir aus den Ohren rausgehüpft! Mein Verstand war weg!«
»Ja, ich ahne sehr wohl, dass dein Verstand weg war, Schwesterlein! Sonst hättest du wohl kaum so selten blöde Dinge getan und gesagt, kaum dass er dir mal in die Augen beziehungsweise auf den Hintern geschaut hat.«
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