Wieder ging ihr Blick hinüber zu dem Ordenssouverän an dem kleinen Tisch vor den Sitzbänken. Sie wusste, wer der Mann war, der dort saß: Karl von Habsburg – der Enkel des letzten österreichischen Kaisers! Auf dem kleinen Tisch vor ihm beleuchteten zwei Kerzen eine goldene Schale – und das Schwurkreuz! Da war es! Jenes legendäre Kreuz aus dem Besitz der Herzöge von Burgund, das bei ihrem Besuch in der Wiener Schatzkammer gefehlt hatte und auf das jeder Ritter vom Goldenen Vlies seit nahezu sechshundert Jahren seinen Eid ablegte. Das mit funkelnden Rubinen, Saphiren und Perlen besetzte goldene Kreuz mit dem mächtigen Goldfuß strahlte im Kerzenschein der dunklen Kirche wie ein Komet. Marie-Claire fühlte sich plötzlich wie ein kleines Kind, das mit glänzenden Augen die brennenden Kerzen des Weihnachtsbaums anstarrt. Die mystische Atmosphäre, die Erhabenheit in den Bewegungen der Vlies-Ritter dort unten beeindruckten sie maßlos. Ein inneres Leuchten schien vom festen Glauben dieser Männer auszugehen. Und von den hohen Idealen dieses Ritterbundes.
Dann setzte das Orgelspiel ein. Die Männer unten in der Kirche sangen. Der Vlies-Aumonier, Erzbischof Christoph Graf von Schönborn-Wiesentheid, zelebrierte, assistiert von einem Priester, eine feierliche Messe. Plötzlich stand ein Ritter nach dem anderen auf, schritt andächtig hin zu dem kleinen Tisch mit dem Schwurkreuz. Jeder von ihnen warf eine große, goldene Münze in die goldene Schale.
Marie-Claire vergaß zu atmen. Sie war fasziniert von der mittelalterlich anmutenden Zeremonie der Vlies-Ritter und war doch hin und her gerissen in ihren Empfindungen. War das alberner Mummenschanz, aristokratisch-monarchistischer Dünkel? War das in tiefer Religiosität verankerte Tradition? Was wollten diese Männer dort unten? War sie Zeugin der Zeremonie einer Geheimbruderschaft, einer Loge? Nachdenklich hockte sie auf dem Steinboden unter dem Erkerfenster. Ihre Gedanken und Empfindungen überschlugen sich. Wie von ferne hörte sie inbrünstig gemurmelte Gebete, lauschte sie den mystischen Liturgien und dem Orgelspiel. Als sei sie der Realität entrückt, in eine andere, eine unwirkliche Welt entfleucht, nahm sie alles um sich herum eigenartig gedämpft wahr. Wieder setzte das Orgelspiel ein. War das nicht …? Ja, das war sie! Die Orgel in der Kirche spielte soeben jene Melodie, die sie selbst noch aus Kindheitstagen kannte. Ihre Großeltern, Verehrer des letzten österreichischen Kaisers, des in Verbannung auf der Insel Madeira verstorbenen Karl I., hatten sie in ihrer grenzenlosen Bewunderung schon als kleines Mädchen dieses Lied zu singen gelehrt. Ja, sie kannte diese Melodie, die von Haydn komponierte und von Lorenz Haschka getextete »Kaiserhymne« – deren Melodie jetzt die deutsche Nationalhymne war.
Entrückt in Erinnerungen, zurückkatapultiert in ihre Kindheit, ergriffen von den plötzlich vor ihren Augen zu neuem Leben erwachenden Bildern ihres so geliebten Großvaters, flüsterte sie ganz leise eine jener Strophen vor sich hin, von denen sie ahnte, dass diese dort unten versammelten Männer, die Ritter vom Goldenen Vlies, sie nun auch vor sich hin flüstern würden: »Lasst uns fest zusammenhalten, in der Eintracht liegt die Macht; mit vereinter Kräfte Walten wird das Schwere leicht vollbracht; lasst uns eins durch Brüderbande gleichem Ziel entgegengehn; Heil dem Kaiser, Heil dem Lande, Österreich wird ewig stehn …«
»Hände hoch! Keine Bewegung!«
Die kaum hörbar und dennoch Furcht erregend dahingezischten Worte des Mannes, der hinter ihr stand, rissen sie aus ihren Träumen. Bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie einen kalten Gegenstand an ihrem Hinterkopf. Ihr Herz schien stillzustehen. Ihr Puls hämmerte in ihren Schläfen. Ihr wurde übel. Panische Angst bemächtigte sich ihrer, als sie begriff, dass der Mann ihr eine Pistole an den Kopf presste.
»Langsam aufstehen! Ganz … ganz langsam aufstehen – und keine falsche Bewegung!«
Es fiel ihr schwer, sich aufzurichten. Die Orgelmusik übertönte das Rascheln ihres Kleides, als sie sich Zentimeter für Zentimeter an der Wand hochzog. Plötzlich wusste sie, woher sie die Stimme des Mannes kannte. Sie hätte am liebsten geweint. Denn vor dem, was nun geschehen würde, hatte sie unendliche Angst.
Der nach dem Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry benannte Flughafen von Lyon war in den späten Abendstunden fast menschenleer. Francis Roundell lächelte. Seit Jahren war er nicht mehr hier gewesen. Mit Lyon verbanden ihn viele angenehme Erinnerungen. Während seiner Dienstzeit in der für Kreditkartenbetrug zuständigen Abteilung bei Interpol war er von hier aus zu vielen interessanten Reisen rund um die Welt losgeflogen. Der Umzug Interpols von Paris nach Lyon hatte letztendlich seinen wichtigsten Karrieresprung herbeigeführt. Wäre er nicht nach Lyon gegangen, hätte er nie den Kontakt zum Auktionshaus Christie’s bekommen. Im Rahmen einer weltweiten Interpol-Ermittlung gegen eine vornehmlich von Saudi-Arabien aus operierende Kreditkartenbetrügerorganisation, die vor allem Kunsthändler schädigte, war der Kontakt zu Christie’s in London entstanden. Schon sechs Monate später hatte man ihm die Position des Sicherheitschefs bei dem renommierten Auktionshaus angeboten. Da er dort seine private Passion für Kunsthandel mit seinen hervorragenden weltweiten Kontakten zu nationalen Polizeibehörden optimal verbinden konnte, füllte ihn diese Tätigkeit für Christie’s ganz und gar aus und machte ihm viel Freude. Nur die finanziellen Rahmenbedingungen seiner Tätigkeit ließen zu wünschen übrig, aber das würde sich ja bald ändern.
Knapp dreißig Minuten nach der Landung stieg er bereits vor dem direkt an der Rhône gelegenen Hotel Bellecour aus dem Taxi. Die Bäume der Allee entlang des Quai Gailleton vor dem hässlichen quadratischen Hotelbau mit seinen acht Stockwerken bogen sich unter starken Windböen. Nur noch einige wenige Blätter hingen an den Platanen. Er schaute auf die Uhr. Es war bereits nach neun. Er war etwas spät dran.
»Bonsoir«, grüßte er den Portier und bat ihn, sein Gepäck direkt auf sein reserviertes Zimmer zu bringen, denn er war im Restaurant Les Trois Domes verabredet. Entgegen seiner Erwartung saß Bernhard Kleimann nicht im Restaurant in der achten Etage. Der modern-luxuriöse Speiseraum war auffallend leer. Durch die riesigen Fensterwände hindurch genoss Francis Roundell einen kurzen Blick über die Stadt. Die vier Türme des nahen Doms erstrahlten im Scheinwerferlicht. In den dunklen Fluten der Rhône spiegelten sich die Häuser der gegenüberliegenden Vergnügungsmeile der Stadt.
Seinen ehemaligen Kollege und langjährigen Freund Bernhard fand Francis in der Cocktailbar Le-Melhor direkt neben dem Restaurant. Er war der einzige Gast. Gedankenversunken saß der korpulente Mann mit dem Rücken zur Bar und stierte aus dem Fenster. In der Hand hielt er ein Glas Rotwein. Er war froh, seinen ehemaligen Kollegen wieder einmal zu sehen. Über die Jahre hinweg hatte sich ihre Freundschaft aus alten Zeiten als sehr hilfreich erwiesen. Bernie saß bei Interpol in exponierter Position. Er hatte Zugang zu allen Computern und Informationssystemen und konnte ihm damit manchmal sensible Polizeiinformationen zukommen lassen. Als Gegenleistung hatte er Bernie dafür auch hin und wieder über seine Kontakte zum internationalen Kunstmarkt bei polizeilichen Ermittlungen helfen können. Dieses Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip funktionierte hervorragend. Als Freunde vertrauten sie sich und gingen entsprechend vorsichtig mit den oftmals brisanten Daten um.
»Bernie, du alter Terrorist! Was schaust du denn so trübsinnig drein?«, begrüßte er den Interpol-Beamten lachend. Bernhard Kleimann zuckte zusammen, rutschte ungelenk vom Barhocker und umarmte Francis Roundell geradezu stürmisch.
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