»Verzeihung, Herr Kommissar – das Krankenhaus in Zehlendorf hat gerade angerufen.«
Knallrot im Gesicht, drehte sich Sydow um, und obwohl er sich für seinen albernen Imitationsversuch schämte, verzog er beim Anblick seiner Sekretärin keine Miene.
»Und?«
»Eine Vernehmung des Motorradfahrers, der heute früh niedergeschossen worden ist, wird bis auf Weiteres nicht möglich sein«, erklärte Annerose Mollig, die im Umgang mit den übrigen Polizisten großen Wert auf die Anrede ›Fräulein‹ legte. Bei Sydow, dem Objekt ihrer Mutterinstinkte, machte sie dagegen eine Ausnahme. Er durfte sie sogar mit ihrem Spitznamen anreden. »Er scheint zwar auf dem Weg der Besserung zu sein, aber momentan sieht es anscheinend ziemlich düster aus.«
»Und seine BMW?«
»Weiterhin keine Spur von ihr«, antwortete die Sekretärin mit einem Tonfall, aus dem man hätte schließen können, sie müsse dies auf die eigene Kappe nehmen. »Zu dumm, dass die amerikanische Streife den Kerl, der den Motorradfahrer niedergeschossen hat, nicht zu fassen bekommen hat.«
Sydow atmete geräuschvoll aus. »Das können Sie aber laut sagen, Molli.«
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Herr Kommissar?«
»Nein, vielen Dank– für den Moment …, doch, können Sie!« Heilfroh, dass die Wunden, die seine Gardinenpredigt hinterlassen hatte, offenbar verheilt waren, flötete Sydow mit zuckersüßer Stimme: »Seien Sie bitte so gut und suchen Sie mir die Adresse von diesem von Oertzen raus. Vorausgesetzt, es gibt Hinterbliebene, ist es höchste Zeit, sie über den Vorfall in Kenntnis zu setzen.«
»Finde ich auch, Herr Kommissar«, antwortete die Vorzimmerdame mit belegter Stimme, aufgrund der Details, die Krokowski ihr in groben Zügen geschildert hatte, noch eine Spur blasser als sonst. »Das bleibt Ihnen wohl nicht erspart.«
»Mir?«
»Ja, wem denn sonst?«, bekräftigte Fräulein Mollig, nickte und trat den Rückzug an. »Von einem künftigen Kriminalrat kann man das ja wohl verlangen.«
Sprach’s und warf die Tür hinter sich zu.
»Autsch!«, ächzte Sydow, fast erleichtert, endlich sein Fett abbekommen zu haben. »Eins zu eins – das hat gesessen.«
Da half nur ein weiterer Schluck Kaffee, und sei es nur, um den Kopf wieder halbwegs frei zu bekommen. Die erhoffte Besserung seines Gemütszustandes ließ jedoch auf sich warten. Weiterhin hundemüde, stellte Sydow die Tasse ab und trat ans Fenster. Der Bürgersteig vor dem Präsidium, nur einen Katzensprung vom Flughafen Tempelhof entfernt, war wie leer gefegt, und die brütende Hitze, auf die er liebend gerne verzichtet hätte, trieb ihm schon am frühen Morgen den Schweiß auf die Stirn. Wie nicht anders zu erwarten, kreisten seine Gedanken alsbald wieder um die Frage, über die er sich bereits mehrfach den Kopf zerbrochen hatte. Doch sooft er sie sich auch stellte, so sehr er sein Gedächtnis auch bemühte oder den Bekanntenkreis seines verstorbenen Vaters, des Freiherrn von und zu Sydow, auch durchforstete – der Name von Oertzen tauchte darin nicht auf.
In der Absicht, sich dem ungeliebten Aktenstudium zu widmen, nahm Sydow daraufhin einen Leitzordner aus dem Regal und lümmelte sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch. Dass daraus nichts wurde, machte ihm nicht sonderlich zu schaffen, das Ungetüm von einer Frau, die sich trotz heftiger Gegenwehr seiner Sekretärin den Weg in sein Refugium bahnte, dagegen schon. Er war so sehr auf sie fixiert, dass er das Jammerbild von einem Mann, der im Schlepptau der Roten Lola den Raum betreten hatte, zunächst völlig ignorierte.
»Nett, dass du wieder mal vorbeischaust, Lola«, würgte Sydow mit verkrampftem Lächeln hervor, vollauf damit beschäftigt, die Rangelei zwischen den beiden Kontrahentinnen zu beenden. »Bitte Platz zu nehmen, Majestät.«
»Ich muss schon sagen, Herr Kommissar, so etwas habe ich in all meinen Jahren bei der Kriminalpolizei …«
»Ich schon, Molli, ich schon«, stöhnte Sydow mit Blick auf die Zweizentnerfrau, unter deren Gewicht der Stuhl vor seinem Schreibtisch bedenklich zu ächzen begann, und komplimentierte seine Sekretärin zur Tür hinaus. »Geht in Ordnung, lassen Sie mich mit der Dame allein.«
»Det haste aber schön jesagt, Schätzchen!«, grunzte die Rote Lola alias Erna Pommerenke nach dem Verschwinden ihrer Sparringspartnerin und stopfte eine echte Havanna in den grellrot geschminkten Mund.
»Was denn, Lola?«, fragte Sydow, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.
»Na, det mit der Dame«, polterte Kreuzbergs Bordellkönigin, deren hautenges Atlaskleid beinahe aus den Nähten platzte, von den Netzstrümpfen über den fettstrotzenden Schenkeln ganz zu schweigen. »Wenn ick jetzt noch Feuer kriege, Süßer, haste dir deine Gratisnummer redlich verdient.«
»Zu gütig, Lola!«, wehrte Sydow ab und reichte ihr sein Feuerzeug, nicht sicher, wie das Angebot zu verstehen war. »Kein Bedarf.«
Doch so leicht ließ sich die Grande Dame der Kreuzberger Liebesdienerinnen, nach der sich jeder Catch-as-catch-can-Veranstalter die Finger geleckt hätte, von Sydow nicht abwimmeln. »Weeste, wat ick glaube, Schätzchen?«, raunte sie ihm in mitfühlendem Tonfall zu, die qualmende Zigarre in der rechten, das Ende ihrer roten Federboa in der linken Hand. »Langsam aber sicher brauchste mal wieder ’ne …«
»Noch ein Wort, Lola«, schnitt ihr Sydow im Handumdrehen das Wort ab, »noch einziges Wort, und ich lasse dich auf der Stelle in U-Haft nehmen!« Er war es leid, ständig mit Ratschlägen eingedeckt zu werden, mochten sie auch noch so gut gemeint sein. »Halt dich da raus, klar?« Kaum hatte er seinem Ärger Luft gemacht, packte ihn die Reue, und so schluckte er ihn hinunter und fragte: »Was kann ich für dich tun, Kleines?«
»Frag lieber, wat ick für dir tun kann, Kleener«, blaffte die Rote Lola verschnupft, im Wissen, die Sympathie des einzigen Polizisten, dem sie über den Weg traute, dadurch nicht entscheidend schmälern zu können. »Und wie du meene mütterliche Fürsorje wieder jutmachen kannst.«
»Klingt interessant, Lola. Lass hören.«
»Wusste ick et doch, dat det dir interessiert.« Ein breites Grinsen auf dem mit Rouge vollgekleisterten Gesicht, lugte Erna Pommerenke über die Schulter und warf der Gestalt, die sich nach wie vor in der Nähe der Tür herumdrückte, einen auffordernden Blick zu. »Spuck’s aus, Paule.«
Der Angesprochene, nach Sydows Schätzung höchstens 40, unter Umständen sogar wesentlich jünger, ließ sich nicht lange bitten. »Also, das war so«, legte der mittelgroße, mit Hut, zerfledderter Jacke und viel zu weiter Hose bekleidete Begleiter von Erna Pommerenke los, »eigentlich bin ich ja aus Wannsee, aber …«
»Det will der Herr Kommissar gar nich wissen, du Transuse«, funkte die Rote Lola dazwischen, sog an ihrer Havanna und nebelte ihn komplett ein. »Komm zur Sache, oder et setzt wat.«
»Ich … ich habe eine Aussage zu machen, Herr Kommissar«, tat der Gescholtene, von seiner Sprechweise her aus Schlesien, laut hüstelnd und mit bleicher Miene kund.
»Dann mal nichts wie los, Herr …«
»Nahler, Herr Kommissar, Paul Nahler«, vollendete der Angesprochene devot, die verhärmte, vor der Zeit gealterte Gesichtspartie auf den Hut gerichtet, den er als Zeichen der Ehrerbietung flugs abgenommen hatte. »Derzeit ohne festen Wohnsitz.«
»Und was gibt es Interessantes zu erzählen, Herr Nahler?«
»Paule, sagen Sie ruhig Paule zu mir, Herr Kommissar.«
»Also gut, Paule –«, fuhr Sydow mit freundlichem Lächeln fort, »wo drückt der Schuh?«
Nahler schluckte und fuhr mit der Hand über sein stoppeliges Kinn. »Ich habe … ich habe …, also, das war so: Vor zehn Jahren, genauer gesagt am 16. Juni 1943, ist ein Kumpel von mir in russischer Gefangenschaft gestorben. Aus diesem Anlass habe ich mir die Freiheit genommen, ihm einen kleinen Besuch abzustatten. Wie in jedem Jahr.«
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