»Such dir deine Handlanger woanders, Kameradenschwein, das Versteck drüben in Westberlin wirst du ohne mich sowieso nicht …« Die Schimpfkanonade, mit der er den verhassten Widersacher eindecken wollte, hatte noch nicht richtig begonnen, als Ole Jensen seinen Fehler bemerkte.
Einen Fehler, wie er größer nicht hätte sein können.
Rembrandt genoss seinen Triumph in vollen Zügen. »Sprich dich ruhig aus, Olaf«, stachelte er ihn schadenfroh an. »Gut zu wissen, dass du endlich Vernunft angenommen hast.« Holländer erhob sich, verstaute seine Tokarew und warf einen Blick auf die Uhr. »Beziehungsweise noch nicht ganz.«
»Wenn du denkst, ich verrate dir, wo …«
»Aber natürlich wirst du mir verraten, wo der fehlende Teil unserer Schatzkarte abgeblieben ist, Jensen. Weißt du auch, warum? Weil du raus willst aus diesem Loch, oder liege ich da falsch? Um jeden Preis, würde ich sogar sagen.« Rembrandt sah erneut auf die Uhr. »Gleich neun«, murmelte er, die Andeutung eines Flackerns in den Augen. »Höchste Zeit für ein Telefonat mit einem guten Freund.«
»Jemand, den ich kenne?«
»Höchstwahrscheinlich nicht«, wiegelte Rembrandt ab, schlenderte zur Tür und drehte sich blitzschnell um. »Aber immerhin jemand, den du in Kürze kennenlernen wirst. Vorausgesetzt, du nimmst endlich Vernunft an, Jensen.«
»Und wenn nicht?«
»Ich gebe dir genau eine Stunde Zeit, Olaf«, drohte Rembrandt mit erhobener Stimme, längst nicht mehr so abgebrüht wie zuvor. »Spätestens, wenn die Frist abgelaufen ist, wirst du auspacken, das garantiere ich dir.«
»Sicher?«
»Mehr als das.« Der Stasi-Offizier legte die Hand auf die Klinke, rückte seine Krawatte zurecht und funkelte Jensen boshaft an. »Keine Bange, Ole – die beiden Gorillas da draußen werden alles tun, damit es dir in der Zwischenzeit nicht langweilig wird.«
*
Es war kurz vor neun, als sich die im Verlauf des Morgens auf mehrere Tausend Demonstranten angewachsene Menge vor dem Eingang der verhassten Untersuchungshaftanstalt zusammenrottete. Eine Szene, wie sie sich an diesem Morgen überall in der DDR abspielte, einem Morgen, von dem nicht wenige glaubten, dass er ihnen die lang ersehnte Freiheit bescheren würde. Das hier war ihre Stunde, ihr Tag – und ihr Sturm auf die Bastille.
Beim Versuch, ihren Wunsch nach Freiheit, Einheit sowie Abdankung der Statthalter Moskaus Ausdruck zu verleihen, sollte es allerdings nicht bleiben. Die Menge wollte mehr, weit mehr. Dort drinnen, in der einstmals so gefürchteten Haftanstalt, saßen nicht nur gewöhnliche Kriminelle. Das war allen, die sich dem Demonstrationszug angeschlossen hatten, bekannt. Dort drinnen saßen die Denunzierten, die Regimegegner, die Opfer einer Willkür, wie sie vor nicht allzu langer Zeit noch an der Tagesordnung gewesen war.
Dort drinnen, in dem schäbigen Backsteingebäude, hätten auch sie, die sie auf das Portal zustürmten, sitzen können.
Allein schon deshalb würden sie sich von ihrem Vorhaben auch nicht abbringen lassen, erst recht nicht von den Wärtern und Stasi-Beamten, die den Versuch unternahmen, sich ihnen in den Weg zu stellen. Angesichts der Menge, der sie sich gegenübersahen, ein schier auswegloses Unterfangen. Es sei denn, sie würden zur Waffe greifen.
Aber genau das taten die Beamten nicht. Abgesehen von ein paar Warnschüssen, die inmitten des Wirrwarrs aus lauthals skandierten Parolen, Drohgebärden, unaufhörlichem Gejohle und wütendem Geschrei beinahe untergingen, geschah fast nichts. Es setzte Hiebe und Ohrfeigen, Mobiliar ging zu Bruch, darüber hinaus mehrere Fensterscheiben. Aber dabei sollte es zur allgemeinen Erleichterung blieben.
Schließlich sollte alles seine Ordnung haben. Soll heißen, dass beileibe nicht alle Gefangenen freigelassen werden konnten. In diesem Punkt waren sich die Demonstranten, die vom benachbarten Gerichtsgebäude aus in die Haftanstalt eindrangen, so gut wie einig. Wer etwas ausgefressen hatte, würde hinter Schloss und Riegel bleiben. Ende der Diskussion. Freiheit war nun einmal nicht gleich Freiheit. Das war den meisten Beteiligten klar. Nur die zu Unrecht Inhaftierten, so die übereinstimmende Meinung, sollten auf freien Fuß gesetzt werden. Als Allererstes natürlich die armen Schweine in den schallisolierten Kellerverliesen. Die waren am schlimmsten dran.
Zum Beispiel ein gewisser Ole Jensen, der das, was sich vor seinen Augen abspielte, zunächst nicht begreifen konnte. All der Jubel, das Schulterklopfen, die aufmunternden Worte. Das Tageslicht, der stahlblaue Himmel, die Sonnenstrahlen, welche sich wie ein lebensspendendes Elixier in den schäbigen grauen Hinterhof ergossen, all das kam so überraschend für ihn, dass er das Leid, welches man ihm zugefügt hatte, auf einen Schlag vergaß und sich heimlich, still und leise in Richtung Ausgang davonmachte.
Dort jedoch, das Triumphgeschrei der siegestrunkenen Menge im Ohr, hielt Ole Jensen schweigend inne. Erst jetzt wurde ihm klar, dass es da drinnen jemanden gab, mit dem er noch eine Rechnung zu begleichen hatte.
Je gründlicher, desto besser.
*
»Scheiße, verdammte!« Die Hand am Abzug seiner Tokarew, stieß Rembrandt eine Serie von Flüchen aus und horchte angestrengt nach draußen. Bis vor zehn Minuten, am Ende seines Gesprächs mit Slavín, hatte er noch gedacht, sämtliche Fäden in der Hand zu halten. Dies war, wie er jetzt wusste, ein Trugschluss gewesen. Ein Irrtum, der ihn womöglich teuer zu stehen kommen würde.
»Hergelaufenes Gesindel!« Alles Fluchen half nicht. Er musste hier raus. Auf schnellstem Wege. Die Tokarew in der rechten Hand, spähte Rembrandt in den Gang hinaus. Gähnende Leere, nur ein fernes, sich stetig näherndes Grollen. Vereinzelte Stimmen, Schreie, das Geräusch zu Bruch gehender Türschlösser.
Schüsse.
Gleich darauf das Getrampel der Rotte, die durch das Treppenhaus in die oberen Stockwerke stürmte. Rembrandt brach der kalte Schweiß aus den Poren. Nichts wie raus hier!, durchzuckte es ihn, raus, solange es noch geht.
Die Frage war nur, wie.
Und wohin.
Der Blick des Stasi-Offiziers irrte durch den sparsam möblierten Raum und hinüber zu den vergitterten Fenstern. Für letztere hätte man dem Direktor eine Kugel verpassen müssen. Ulbrichtporträt, Schreibtisch, kackbraune Tapeten, Regale und jede Menge Aktenordner.
Sonst nichts.
Beim Anblick des Kleiderschrankes, der rechts neben dem Fenster stand, hellte sich Rembrandts Blick plötzlich auf. Wenig später wirbelte er herum, riss die Tür auf und rannte zur Kleiderausgabe, die sich auf dem gleichen Stockwerk wie das Büro des Anstaltsleiters befand.
Er brauchte nicht lange zu suchen.
Die Häftlingskleidung, die er dort vorfand, passte wie angegossen. Rembrandt atmete tief durch. In diesem Aufzug würde er niemandem auffallen, und wenn, würde er eben einen auf Grimms Märchen machen. Groß anzustrengen brauchte er sich da nicht. Er war der geborene Schauspieler, imstande, seine Rollen nach Belieben zu wechseln. Hatte er diesen Schlamassel hier erst hinter sich, würde man weitersehen. Insbesondere bezüglich der Frage, wie er an den fehlenden Teil der Karte …
Der Fluch, den Rembrandt in diesem Moment ausstieß, war mit Abstand der vulgärste, der ihm am heutigen Tag über die Lippen gekommen war. Ohne einen weiteren Blick für den sündhaft teuren Zweireiher, den er achtlos in die Ecke geschleudert hatte, warf Rembrandt die Tür der Kleiderkammer hinter sich zu und stürmte in Panik davon. Als er das Büro des Anstaltsleiters erreichte, waren die Schritte ganz nah. Noch hätte er umdrehen, in die entgegengesetzte Richtung davonstürmen, sein Heil in der Flucht suchen können. Dass er es nicht tat, hatte mit einem Mangel an Intelligenz, Kaltschnäuzigkeit oder Selbstbeherrschung nichts zu tun. Die Tatsache, dass er die Tür aufriss, ins Zimmer stürmte und die Karte an sich raffte, die noch ausgebreitet auf dem Schreibtisch lag, war einzig und allein dem Umstand zuzuschreiben, dass SS-Obersturmbannführer Curt Holländer alias Rembrandt von hemmungsloser Gier gepackt worden war.
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