Nach einer weiteren Stunde trug einer der Stewards ein Bündel zu Holmes' Suite. Den reglosen Körper von Alice Harrison. Doktor Watson fühlte den Puls des Mädchens und kontrollierte mit seiner flachen Hand die Atmung. Seine medizinischen Geräte hatte er beim Brand seiner Kabine verloren.
»Ich denke, Alice ist so weit in Ordnung. Sie wird, wie ihre Eltern, am späteren Morgen aufwachen und von den nächtlichen Umtrieben nichts wissen. Dennoch schlage ich vor, der Schiffsarzt kümmert sich um die Familie. Gerade ein kleiner Körper wie der von Alice könnte auf die Droge mit Atembeschwerden reagieren«, schlug der Doktor vor.
»Was war heute Nacht los?«, fragte Joseph Bruce Ismay. »Mir war, als ob sich das ganze Schiff in Aufruhr befinde. Ich fühle mich wie gerädert.«
»Watson wird Sie auf dem Laufenden halten. Ich empfehle Ihnen, das Frühstück mit ihm einzunehmen.«
»Und Sie, Mr. Holmes? Wollen Sie sich uns nicht anschließen?«
»Das ist leider nicht möglich. Ich muss noch vor dem Eintreffen der Hafenpolizei einen Bericht an meinen Bruder in London durchgeben, damit er die Kollegen in New York ersucht, sich bei den Ermittlungen etwas zurückzuhalten. Der Fall ist an sich geklärt. Mit den Ergebnissen muss allerdings vorsichtig umgegangen werden.«
»Aber …«
»Ich weiß, Mr. Ismay, dass Sie mein Auftraggeber sind. Und ich werde Sie nicht enttäuschen, wenn Sie Geduld haben, bis zum Ende dieses Jahres zu warten. Sollten Sie dazu nicht bereit sein, werde ich natürlich die Vorauszahlung, die Sie geleistet haben, retournieren.«
»Aber nein, Mr. Holmes. Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen und Ihren Arbeitsmethoden. Ich bin mir sicher, dass alles gut werden wird. Für mich persönlich und meine Firma.«
»Watson wird Ihnen mitteilen, was in der Nacht geschah. Ich begebe mich in den Funkraum.«
Dort gab Holmes einen knappen Bericht an seinen Bruder Mycroft durch. Eine geheime, verschlüsselte Botschaft, von deren Wortlaut nicht einmal der damit befasste Funker wusste. Holmes selbst tippte den Bericht in den Fernschreiber.
Eine Stunde später kam die Antwort.
Gratulation. Kontakt mit amerikanischem Außenminister. Keine Komplikationen. Gruß, Mycroft.
Demgemäß problemlos verlief das Gespräch zwischen Holmes und dem amerikanischen Sonderermittler, Captain Roscoe, der den Einsatz der Hafenpolizei leitete. John Roscoe war nach der Untersuchung der beiden Toten einverstanden, diese in einem Kühlraum des Schiffes zurück nach England transportieren zu lassen, um ein Begräbnis in der Heimat zu ermöglichen.
Roscoe und Holmes einigten sich auch auf eine gemeinsame Stellungnahme gegenüber der New Yorker Presse am Morgen des folgenden Tages, bei der von großen Fortschritten bei der Lösung des Rätsels um die Titanic die Rede sein sollte. Um wichtige weitere Ermittlungsschritte nicht zu gefährden, werde man sich erst in einiger Zeit mit einem detaillierten Bericht an die Weltöffentlichkeit wenden können. Der Londoner Detektiv Sherlock Holmes, der für die Schifffahrtslinie White Star tätig sei, sowie die New Yorker Hafenpolizei, ersuchten dafür um Verständnis.
Doktor Watson wiederum war die Aufgabe zugefallen, per Fernschreiber einen Bericht an die Pall Mall Gazette durchzugeben. Die Redaktionskollegen von Conolly hatten sich in mehreren Funksprüchen besorgt gezeigt, als sie keine Nachrichten mehr von ihm erhalten hatten.
Watson übermittelte folgende Nachricht an die Londoner Zeitung.
DER FLUCH DER TITANIC!
Der Fluch der Titanic traf einen weiteren Mitarbeiter der Pall Mall Gazette . Nach dem Journalisten William Stead, der beim Untergang der Titanic ums Leben gekommen war, dem amerikanischen Schriftsteller Morgan Robertson, der den Untergang der Titanic so eindrucksvoll vorausgesehen hatte und der im heurigen Jahr verstarb, und nach der Ermordung des Journalisten Stanley R. Evans beklagt die Pall Mall Gazette nun ein weiteres Opfer des Fluchs der Titanic: Robert Maurice Conolly fiel auf der Gedächtnisreise nach New York an Bord der RMS Olympic einem Mordanschlag zum Opfer.
Die New Yorker Polizei und der Londoner Detektiv Sherlock Holmes ermitteln intensiv. Doktor John Watson, der Biograph von Sherlock Holmes, wird die Leser der Gazette mit regelmäßigen Berichten über die Fortschritte bei der Lösung des heiklen Falles informieren.
Holmes, der Watsons Artikel überflogen hatte, erklärte sich mit der Formulierung einverstanden, so dass die Nachricht in dieser Form nach London übermittelt werden konnte.
»Von einigen Wiederholungen abgesehen, ganz brauchbar«, sagte er. »Der zweite Satz ist zu lang, aber das soll die Redaktion reparieren.«
Watson wollte protestieren, zog es dieses Mal aber vor, zu schweigen.
Das Essen wurde an diesem Abend, mit Rücksicht auf den weiteren Todesfall, nicht von Musik begleitet.
Bevor Holmes sich zur Nachtruhe zurückzog, verabschiedete er sich von einigen der Passagiere.
»Auch wenn Ihr Freund Dr. Watson der Meinung ist, dass Joseph hinter all dem steckt, hoffe ich doch sehr, dass Sie das anders sehen, Mr. Holmes«, sagte Hilda Farland.
»Ich freue mich, dass Sie Mr. Ismay verzeihen konnten und dass Sie ihm damit einen Teil seiner schweren Bürde abgenommen haben«, sagte Holmes mit einer tiefen Verneigung vor den beiden. Dann wandte er sich an den Reedereibesitzer. »Sie können die letzte Nacht in Ihrer eigenen Kabine verbringen, Mr. Ismay. Die Schwierigkeiten an Bord dieses Schiffes sind endgültig ausgestanden.«
Die Augen Ismays leuchteten zum ersten Mal seit langem wieder, die Spitzen des Schnurrbarts wiesen verwegen nach oben, als der Reeder Hand in Hand mit Mrs. Farland den Speisesaal verließ.
Ein weiteres Paar hatte sich auf dieser Reise gefunden, wie für Holmes zu erkennen war. Das Ehepaar Graham und Linda Hornby.
»Wann reisen Sie zurück nach London, Mr. Holmes?«, fragte Linda Hornby den Detektiv.
»Am Montag, mit diesem Schiff.«
»Ich lade Sie ein, bis dahin hier in New York unser Gast zu sein. Sie und Ihr Reisebegleiter.«
»Wenn Sie Ihre großzügige Einladung auch auf den Geschäftspartner Ihres Bruders, Mr. Ismay, ausdehnen könnten, würde ich dieser sehr gerne Folge leisten. Und noch etwas …«
»Ja, Mr. Holmes?«
»Wäre es möglich, der Bibliothek Ihres Vaters, der Pierpont Morgan Library , einen Besuch abzustatten?«
»Ich denke mir, das lässt sich machen, auch wenn der Bibliothekar am Wochenende frei hat. Wir werden ihn schon irgendwo finden.«
»Du darfst ab jetzt über alles reden, Alice. Die Gefahr ist vorbei. Wie geht es dir?«, fragte Holmes beim Abschied das Mädchen.
»Ich bin noch etwas müde. Sonst aber bin ich sehr froh.« Verlegen senkte das Mädchen den Blick.
Holmes verabschiedete sich auch von Christina Reynolds und ihrer Mutter.
»Das Collier wurde in der Kabine eines Passagiers gefunden, der die Fahrt nach New York nicht überlebte. Es befindet sich in den Händen der New Yorker Polizei.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Holmes, dass Sie mich auf diese Weise entlasten. Ich verspreche Ihnen …«
»Ich bin nicht Ihr Vater, Miss Reynolds. Versprechen Sie es sich selbst. Sie wissen nun, dass man durch eine kleine, unüberlegte Handlung sehr viel Schlimmes auslösen kann.«
Gegen neun Uhr suchte der Detektiv noch die bescheidene Kabine der Bibliothekarin der Olympic auf. Irene Adler öffnete Holmes mit einem strahlenden Lächeln.
»Dieses Mal ist es mir nicht möglich, einem Abschied zu entkommen«, meinte sie.
»Da Sie auf einen nächtlichen Abgang mit einem Rettungsboot verzichtet haben.«
»Welchen Grund hätte ich zu einer solchen Flucht?«, meinte die Detektivin.
»Ich denke mir, Gründe gäbe es genug.«
»Tatsächlich? Und was hat Sie daran gehindert, mich nicht der Polizei auszuliefern, wenn Sie mich irgendeiner Missetat verdächtigen?«
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