Watson sah Holmes Hilfe suchend an, dieser sagte: »Von meiner Seite besteht kein Einwand dagegen. Ja, ich würde die Kommunikation mit den Zuhörern sogar begrüßen.«
»Sie führen etwas Besonderes im Schilde, Mr. Holmes?«, fragte die Bibliothekarin interessiert.
»Nichts von Bedeutung, Miss Ronstead. Das Außergewöhnliche an diesem Abend beschränkt sich auf die literarischen Werke meines Freundes Watson.«
»Beschränkt«, murrte dieser. »Sie können es nicht lassen, Holmes.«
»Ich bedaure die unglückliche Formulierung«, verbesserte sich dieser. »Der wahre Höhepunkt unserer gesamten Reise auf der Olympic wird heute Abend erreicht. Durch Doktor Watson und seinen literarischen Vortrag. Gut so, Watson?«
»Wenn Sie fertig sind mit Ihren Seitenhieben auf mich, vergessen Sie nicht das Gespräch, um das ich Sie gebeten habe«, antwortete dieser.
»Was wollen Sie mir unbedingt mitteilen, Doktor?«, fragte der Detektiv bei einem Glas Whisky seinen Begleiter in dessen Kabine.
»Was gedenken Sie mit Mr. Ismay zu tun? Werden Sie ihn der New Yorker Polizei übergeben oder bringen Sie ihn zurück nach London, um ihn an Scotland Yard auszuliefern?«
»Mr. Ismay? Was haben Sie gegen diesen Gentleman, Watson?«
»Es ist wohl klar, was ich meine. Ismay hat mit Conolly seinen letzten Widersacher ausgeschaltet, er steckt wohl auch hinter der Ermordung von Mrs. Oldman-Smythe. Und Sie selbst, Holmes, haben angekündigt, dass dies nicht der letzte Mord auf der Erinnerungsreise war.«
»Wer, glauben Sie, Watson, wird als Nächster daran glauben müssen, wenn wir, bescheiden, wie wir sind, anderen zunächst den Vortritt lassen?«
Der Doktor dachte nach, dann meinte er: »Daran habe ich noch nicht gedacht. Aber ich fühle mich durchaus nicht wohl in meiner Haut. Ismay ahnt, dass ich ihn verdächtige. Und dass er keine Skrupel kennt, wissen wir ja. Es wäre also zu empfehlen, ihn zu verhaften und ihn sicher zu verwahren.«
»Er ist sicher in meiner Kabine verwahrt, Watson. Im Übrigen teile ich Ihren Verdacht, dass Ismay in das mörderische Geschehen verwickelt ist, keineswegs.«
»Aber wer dann? Wer soll dahinter stecken? Die Brüder von Kapitän Smith etwa?«
»Das wäre nicht ganz auszuschließen. Ich denke mir, dass es einen Hintergrund der Geschehnisse gibt, der, ähnlich einem Eisberg, tief und gefährlich bisher im Verborgenen blieb. Etwas, das in die Vergangenheit reicht und mit dem schwarzen Diamanten von Mrs. Oldman-Smythe zu tun hat.«
»Den Sie ins Meer warfen.«
»Den ich symbolisch ins Meer warf, der sich jedoch noch auf diesem Schiff befindet und der Person, die ihn bei sich hat, kein Glück bringen wird.«
»Was haben der Untergang der Titanic und die Morde mit dem schwarzen Diamanten zu tun?«
»Der Stein ist südafrikanischer Herkunft. Black Tear wurde in den Wirren des Burenkrieges Ohm Krugers Frau gestohlen.«
»Kapitän Smith hatte mit dem Burenkrieg zu tun«, sagte Watson.
»Richtig. Er transportierte Truppen nach Südafrika, darunter vermutlich jene Männer, die für die Verbrechen verantwortlich sind, die wir nun klären wollen.«
»Seine Brüder?«
»Sie haben recht, Watson. Wir müssen allem und jedem Misstrauen entgegenbringen, brauchen aber hieb- und stichfeste Beweise, um den Gegner nachhaltig überführen und besiegen zu können.«
»Sagen Sie doch, was Sie alles wissen, Holmes!«
»Es ist wichtig, das Hauptziel, die vollständige Aufdeckung der Verbrechen, im Auge zu behalten und dabei auf kleine Triumphe zu verzichten. Ein langer Atem, ein sehr langer Atem, ist vonnöten. Ein langer Atem, zu dem es auch gehört, schweigen zu können.«
Nach einem Mittagsschläfchen besuchte der Detektiv Irene Adler in der Bibliothek, in der sich um zwei Uhr noch keine Besucher befanden. Die Passagiere schienen am vorletzten Tag ihrer Reise besonders ruhebedürftig.
»Ich freue mich auf den heutigen Abend«, sagte Irene Adler. »Was ich über Sie und Ihre Arbeit weiß, verdanke ich den Texten von Dr. Watson.«
»Watson hat die Bücher in seiner liebenswürdigen Art geschrieben und mich so dargestellt, wie er mich gerne sieht. Als kalten Analytiker, ohne menschliche Regungen, eine Art Detektivmaschine, die einen großen Teil ihrer Zeit damit verbringt, sich selbst bei der Lösung von meist belanglos-skurrilen Fällen darzustellen.«
»Und Watson irrt damit?«
»Das will ich nicht behaupten«, versuchte Holmes dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. »Sie meinen zu wissen, wie mein Leben seit unserer denkwürdigen Begegnung verlief. Ich wiederum bin nur auf Vermutungen angewiesen und würde gerne aus Ihrem Mund vernehmen, was Ihnen widerfuhr.«
»Ich bin, wie gesagt, Mutter zweier wunderbarer Söhne, von denen einer viel versprechende detektivische Fähigkeiten besitzt.«
»Die er von Ihnen geerbt hat?«
»Vermutlich. Für mich war es wichtig, mich zu entscheiden. Ich fand es im Laufe der Jahre weniger gefährlich, auf der Seite des Gesetzes tätig zu sein, als weiblicher Detektiv …«
»Mit hochinteressanten Überschreitungen der Grenze zwischen Gut und Böse.«
»Wie meinen Sie das, Mr. Holmes?«
»Nur meine Phantasie, Mrs. Wolfe, wie ich schon sagte. In meiner inneren Vorstellung waren Sie sehr erfolgreich. In spektakulären Fällen. Aber Sie haben eine Tendenz, die Bestrafung derer, die Sie überführten, in die eigene Hand zu nehmen, wenn …«
»Wenn nicht gesichert ist, dass die zuständigen Instanzen ihrer Pflicht nachkommen.«
»War das auch im Falle des Thronfolgers so?«
»Sie meinen Prinz Albert Edward?«
»Nein. Ich beziehe mich auf ein Land im Zentrum Europas.«
»Ach. Ich konnte nicht ahnen, wie sehr Sie sich mit meiner Tätigkeit beschäftigten. Im von Ihnen angesprochenen Fall konnte ich nicht anders, Mr. Holmes. Es war klar, wer dahinter steckte. Und diese Person musste zur Rechenschaft gezogen werden, so mächtig sie auch war.«
»Es ist Ihnen aber auch klar, dass der derzeitige Krieg, das Chaos in Europa, das bis nach England und Amerika ausstrahlt, eine Folge Ihrer Ermittlungen ist«, stellte Holmes fest.
»Was wissen Sie konkret über die Ermordung des Thronfolgers und seiner jungen Freundin? Ich bin mir nicht sicher, ob Sie nicht bluffen, um Informationen aus mir herauszuholen. Ach verdammt, es ist sonst niemand hier.«
Mit diesen harschen Worten steckte sich die Bibliothekarin eine Zigarette an.
»Ich weiß«, sagte Holmes, als er ihr Feuer gab, »dass Sie von der Kaiserin beauftragt wurden, den Mord an ihrem Sohn zu klären. Und dass Ihnen das auch gelang, mit jenen weit reichenden Folgen, die ich schon erwähnte.«
»Ich widerspreche Ihnen nicht, Holmes, weigere mich aber, in Details zu gehen. Die Ordnung, die durch einen skrupellosen Mann gestört worden war, wurde wiederhergestellt«, antwortete Irene Adler knapp.
»Und Ihre Auftraggeberin verlor das Leben. Sowie der direkte Nachfolger des Kaisers.«
»Jahre später.«
»Und Sie fürchten, ebenso beseitigt zu werden, wenn Sie nicht schweigen.«
»Die Gefahr verringert sich von Jahr zu Jahr.«
»Gut. Lassen wir es dabei bewenden. Ich weiß, wer die wahre Macht in jenem Land ausübt, Sie wissen es. Und die Schmierenkomödie, die dem Rest der Welt vorgespielt wird, konnte nur in der gegenwärtigen Katastrophe enden.«
»Wir könnten dieses Spiel nun ewig weiterspielen, Mr. Holmes. Ich möchte es aber hiermit beendet wissen.«
»Sofort. Was geschah mit dem wirklichen Kaiser jenes Landes, nachdem er durch den Schauspieler ersetzt wurde?«
»Kein weiteres Wort, Holmes! Sie sind verrückt. Ich ersuche Sie zu gehen.«
»Es war sehr schön, es hat mich …«
»Schweigen Sie, Holmes!«
»Nicht ohne vorher mit Ihnen den Ablauf des heutigen Abends besprochen zu haben.«
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