»Auch das lässt sich erklären. Er kann seit dem Untergang der Titanic nur mehr mit Hilfe von Opium Schlaf finden. Der Mann ist schwer betäubt«, erklärte Sherlock Holmes. »Aber nun ist es Zeit für Sie, Watson, etwas zu ruhen. Legen Sie sich nieder. Ich werde über Sie wachen.«
*
Eine bewährte Taktik von Samma, dem Davidskrieger, war es, an einem Ort Feuer zu legen, an einem anderen Ort weiteres Unheil anzustiften und an einem dritten Ort in aller Ruhe mit den Kameraden das Weite zu suchen. Auf diese Weise hatten sie in Südafrika Chaos in die Siedlungen der Buren gebracht und waren jeweils unversehrt entkommen. Dieselbe Methode wandte Samma nun an Bord der Olympic an. Während die Mannschaft der Olympic damit beschäftigt war, das Feuer in der Kabine des ältlichen Arztes zu löschen, der, wenn er nicht schlau genug war, darin umkommen würde, konnte er sich Aufgabe Nummer zwei widmen, um dann das Schiff in einem der Rettungsboote zu verlassen. In der Dunkelheit. Ungestört. Weil alle mit der Aufklärung der mysteriösen Ereignisse der Nacht beschäftigt waren.
Die Mannschaft der Loch Lomond , bereits per Funk verständigt, würde ihn nach einigen Meilen Ruderns sicher an Bord nehmen. Es würde nicht leicht sein, das allein zu schaffen, aber sie hatten es vor dem Antritt seiner Reise trainiert. Ein Mann im erfolgreichen Kampf gegen hunderte. Ein Davidskrieger zu Wasser, zu Land und in der Luft. Gegen die Goliathe dieser Welt. Das war Leben, das war Abenteuer!
Die Eltern der Kleinen schliefen, als Private Samma in der Verkleidung eines Stewards die Kabine der Reynolds betrat. Sie hatten nicht widerstehen können, von dem Imbiss zu kosten, den er ihnen am Abend in die Kabine gebracht hatte. Das Opium hatte seine Wirkung getan. Die Kleine war federleicht. Ein winziger Vogel, der sanft atmete, die Augen fest geschlossen. Ob sie träumte? Und wenn, was träumte sie?
Nein, Private Samma würde sie nicht über Bord werfen. Das kam nicht in Frage. Frauen und Kinder blieben verschont. Er würde sie in eine der leeren Kabinen bringen, dort konnte sie friedlich die Nacht verbringen und irgendwann am Vormittag erwachen.
Der kleine Engel.
Samma legte sie auf das Bett der unbenutzten Kabine und deckte sie zu. Mit seiner Hand streichelte er ihr dunkelbraunes Haar.
Es mochte in dieser vorletzten Nacht der Jubiläumsreise der Olympic seit dem Feuer kaum eine Stunde vergangen sein, als an die Tür von Holmes' Suite geklopft wurde. Der Detektiv, der mit der Pistole im Anschlag vorsichtig öffnete, fand den Korridor leer. Ein Zettel, der sich aus dem Türspalt gelöst hatte, fiel zu Boden.
Die Kleine befindet sich in unseren Händen. Es wird ihr nichts geschehen, wenn Sie schweigen.
Der Detektiv dachte sofort an Alice und Christine und war alarmiert. Dennoch, beschloss er, würde er nicht das Nächstliegende tun und die Kabinen der beiden Mädchen aufsuchen. Damit rechnete der Gegner und plante womöglich in der Zwischenzeit einen Anschlag auf Holmes' Räumlichkeiten.
Der Detektiv bedauerte es sehr. Aber er musste den armen Doktor wecken. »Kontrollieren Sie bitte die Kabinen von Mr. und Mrs. Harrison und von Miss Reynolds.«
»Aber es ist mitten in der Nacht. Die Leute schlafen.«
Als Holmes dem Doktor den Zettel mit der Warnung zeigte, eilte dieser ohne Aufschub auf den spärlich beleuchteten Gang.
»Und kommen Sie wieder, auch wenn alles in Ordnung ist.«
Holmes verschloss die Kabinentür und dachte über das weitere Vorgehen nach.
Nach etwa zwanzig Minuten kehrte Watson mit dem Kapitän zurück. »Es handelt sich um Alice. Um Alice Harrison. Ihre Eltern sind nicht wach zu kriegen. Vermutlich ein starkes Schlafmittel im Abendimbiss. Und das Mädchen fehlt. Ihr Bett ist leer.«
»Wir dürfen keine Zeit verlieren, Kapitän«, sagte Holmes. »Das Schiff muss durchsucht werden, von oben bis unten, bis in den letzten Winkel. Ich muss Sie dringend ersuchen, jeden Mann Ihrer Mannschaft dafür zur Verfügung zu stellen. Nur so können wir das Mädchen eventuell retten.«
»Selbstverständlich, Mr. Holmes. Ich werde das Nötige veranlassen. Sie verstehen aber, dass ich jede Panik vermeiden werde. Alles muss so ruhig wie möglich ablaufen.«
»Das ist in meinem Sinn. Wie lange, rechnen Sie, wird die Durchsuchung des Schiffes dauern?«
»Eine Stunde. Nicht mehr als eine Stunde. Nicht alle Kabinen sind besetzt. Das lässt sich bewerkstelligen, wenn wir alle verfügbaren Kräfte einsetzen.«
Holmes, der sich an der Suche beteiligte, bestand darauf, dass der Doktor in der Kabine bei Joseph Bruce Ismay blieb, der noch immer tief und fest schlief.
Die Gänge waren hell erleuchtet. Männer der Schiffsmannschaft eilten von Tür zu Tür und erklärten den Passagieren, dass man jede Kabine durchsuchen müsse. Die Passagiere, die aus dem Schlaf gerissen wurden, zeigten zumeist Verständnis und gewährten dem Personal Zutritt.
Als sich ein Mann beharrlich weigerte, die Stewards in seine Räume zu lassen, wurde er festgenommen. In seinem Bett lag eine fremde Frau, die mit lautem Gekreische in spärlich bekleidetem Zustand auf den Gang flüchtete.
»Wir werden Ihren Mann erst wecken, wenn Sie in Ihre Kabine zurückgekehrt sind, Mrs. Summer«, versprach der Steward.
»Meine Leute haben etwas entdeckt«, sagte der Kapitän, als er auf Sherlock Holmes zueilte. »In Kabine 15-B.«
»In Mr. Hatters Räumlichkeiten«, spezifizierte der Detektiv.
»Ja. Kommen Sie bitte.«
John Hatter lag in einer Blutlache auf dem Teppich, das Gesicht dem Boden zugekehrt. Jemand hatte ihm von hinten in den Kopf geschossen. Das Blut war frisch, die Projektile steckten im Holzboden darunter. Holmes untersuchte die Geschosse, obwohl ihm bewusst war, dass der Täter seine Waffe vermutlich ins Meer geworfen hatte.
Es handelte sich um ein anderes Kaliber als bei der Waffe, mit welcher der Journalist getötet worden war. Bemerkenswert fand der Detektiv, der nun den Körper des Toten untersuchte, vor allem den Anhänger, den Mr. Hatter an einer Metallkette um den Hals trug, unter dem Hemd verborgen. Es handelte sich um die Nachbildung eines Bronzemedaillons, das die Queen verdienten Männern verlieh.
Auf dem Schreibtisch des Versicherungsmannes lag das Collier von Mrs. Oldman-Smythe mit dem wertvollen schwarzen Diamanten, dem Black Tear , als Anhänger. Holmes bat den Kapitän, das Schmuckstück bis zur Ankunft der New Yorker Polizei im Safe zu verwahren. Hinter dem Collier stand ein modernes Funkgerät, dem der Detektiv seine spezielle Aufmerksamkeit widmete.
Was für eine Reise! Ein weiterer Toter, nach dem Verschwinden von Mrs. Oldman-Smythe und der Ermordung von Robert M. Conolly. Ein Diebstahl, ein Brandanschlag und die Entführung eines kleinen Mädchens, das besonders dadurch gefährdet war, dass es wieder sprechen konnte.
Wo war Alice? War sie unversehrt oder ebenfalls tot?
Holmes machte sich Vorwürfe. Erwachsene Menschen waren für ihre Sicherheit selbst verantwortlich. Aber Kinder benötigten Schutz und Hilfe. Und die hatte er der kleinen Alice nicht gegeben.
Der Gegner drohte ihm in dem Schreiben an seiner Kabinentür mit der Ermordung des Mädchens, wenn er nicht schweige. Diese Nachricht musste mit der Lesung in der Bibliothek am Vorabend in Zusammenhang stehen. Ein wunder Punkt war getroffen, der in die Enge getriebene Feind war zu allem bereit.
Wo würde er ein kleines, entführtes Mädchen verbergen? Zunächst, überlegte Holmes, wäre es wichtig, das Kind ruhig zu stellen. Das Mädchen war vermutlich betäubt worden, so wie seine Eltern. Durch mit Opium versetzte Speisen. Und es lag … vermutlich in einer der nicht besetzten Kabinen. Also waren auch diese zu durchsuchen. Und zwar so rasch wie möglich.
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