»Das sehe auch ich so, Mrs. Farland«, meldete sich Bruce Ismay erneut zu Wort. »Und doch denke ich, dass Sterben und Überleben Sinn haben und hatten. Nicht auf vordergründige Weise, derzufolge es nur Hell und Dunkel, Gut und Böse gibt, sondern auf einer höheren Ebene. Mein Leben ist seit jenem Tag beinahe unerträglich geworden, aber es hat an Tiefe gewonnen. Ich bin erst in diesen drei Jahren Mensch geworden.«
»Danke, Mr. Ismay. Danke für diese Worte. Genau das trifft auch auf mich zu«, sagte Mrs. Farland und stellte sich demonstrativ an die Seite des Reeders. »Gott ist keine Marionette des beschränkten menschlichen Verstandes. Er ist, sollte er tatsächlich existieren, ein rätselhaftes Wesen, dessen Geheimnis sich uns nicht erschließt.«
Der Geistliche schwieg nach diesen Worten der Witwe. Schließlich wandte sich die junge Braut, Mrs. Linda Morgan-Hornby, an die Gedenkversammlung: »Wir stellten bei der Vorbereitung dieser Feierstunde verschiedene Überlegungen an. Ein Teil davon war die Idee, jeden der Anwesenden, sofern er dazu imstande ist und das auch will, einige Worte sprechen zu lassen. Wichtig ist es, diese Aussagen unkommentiert zu lassen, sie schweigend wirken zu lassen. Und – ich wiederhole – es besteht kein Zwang, etwas zu sagen.« Nach einer kurzen Pause setzte die junge Frau fort: »Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, indem ich über meinen Vater rede. Über John Pierpont Morgan, den amerikanischen Miteigentümer der Schifffahrtslinie, für die die Titanic fuhr. Als seine Tochter fühle ich mich mitbeteiligt an der Tragödie. Vater starb vor zwei Jahren, fast genau ein Jahr nach dem Unglück, das er überlebte, weil er nach der Warnung durch eine Wahrsagerin nicht an Bord des Schiffes gegangen war. So jedenfalls erklärte er sein Fernbleiben von der Jungfernfahrt der Titanic. Sein leidvolles, durch viele Krankheiten überschattetes Leben beendete er in Rom. Er war ein zurückgezogen lebender, scheuer Mensch, nicht zuletzt wegen einer Verunstaltung seines Gesichts. Und doch war er mehr als ein unersättlicher reicher Mann. Er gründete eine Kunstsammlung und eine Bibliothek, die mein Bruder und ich zu seinem Gedächtnis erhalten und ausbauen wollen. So viel über einen für die Titanic wichtigen Menschen. Ich komme nun zu mir. Ich befinde mich auf Hochzeitsreise, nachdem ich Graham Hornby von den Northern Steamships in London geheiratet habe. Auf einer Reise, die mich zurück in die Staaten, zu meiner Mutter und zu meinem Bruder bringen soll und zu ausgedehnten Feiern meiner Vermählung im Kreise meiner eigenen Familie. Die Reise auf diesem Schiff hat mir die Augen geöffnet. Ich weiß, dass ich mit der Heirat einen Fehler begangen habe, den ich keinen Augenblick fortsetzen werde. Ich werde mich, sobald wir New York erreichen, von Graham Hornby trennen. Er liebt mich nicht. Er hat mich aus wirtschaftlichen Gründen geheiratet, und ich bin nicht bereit, dies hinzunehmen.«
»Aber Linda! Das ist doch nicht wahr! Wir müssen darüber reden. Komm doch!«, rief Graham Hornby, dessen Gesicht vor Aufregung und Scham rot geworden war.
»Natürlich werde ich für ein Gespräch zur Verfügung stehen, falls du es nicht vorziehst, deine Nächte mit anderen Frauen in fremden Kabinen zu verbringen.«
»Ich schlage vor, dass wir zur Grundregel unseres Gedenkabends zurückkehren«, unterbrach Sherlock Holmes. »Wie Mrs. Hornby am Beginn ihrer Ausführungen so weise vorschlug: Die Aussagen der einzelnen sollen unkommentiert bleiben. Wir wollen sie schweigend auf uns wirken lassen. Nun zu den Eindrücken, die mich bisher auf dieser Schiffsreise bewegten. So gewaltig und unberechenbar wie das Meer, das scheinbar still und friedlich vor der Titanic lag und wie es sich auch uns soeben präsentiert, so arbeiteten und arbeiten auch die negativen Kräfte, die hinter dem Verderben der Menschen auf der Titanic standen und hinter einigen Ereignissen auf diesem Schiff, über die ich mich momentan nicht äußern möchte. Die negativen Kräfte, als die ich sie bezeichne, wirken schlau und ohne größeres Aufsehen. Und nur der- oder diejenige, die allzu unvorsichtig ist, verliert. Ein Schmuckstück oder gar das Leben. Die Bedrohung für die Übrigen ist schleichender, aber mindestens so effektiv. Mrs. Oldman-Smythe sagte bei der Eröffnung der Ausstellung ihrer bemerkenswerten Gemälde, dass sie sich wünsche, ihre Asche würde dereinst ins Meer gestreut werden. Nun, der Wunsch wurde erfüllt, zwar nicht wortwörtlich, aber dem Sinn nach. Ich denke, dass der Augenblick gekommen ist, der Künstlerin einen Gegenstand folgen zu lassen, der ihr gehörte.«
Holmes zog ein weißes Stoffsäckchen aus dem Jackett seines dunklen Anzugs und warf es über die Reling ins Meer.
Einige der Anwesenden bekreuzigten sich unbewusst.
»Überlebende des Unglücks«, wandte sich Holmes erneut an die versammelten Passagiere der Olympic, »erzählen immer wieder in beeindruckender Weise von der unheimlichen Stille, die beim Untergang der Titanic herrschte. Das Meer war nahezu unbewegt, niemand schrie. Ich ersuche Sie um einen Moment der Stille.«
Minutenlang wagte es niemand, als Erster die Ruhe zu brechen, bis sich Mrs. Hilda Farland zu Wort meldete. »Ich gedenke meines Mannes und meines Enkelsohnes Peter. Ich vermisse beide so sehr, dass es körperlich schmerzt. Immer wieder hoffe ich, dass es entweder ein Fortleben der Seele in einer jenseitigen Welt gibt, oder dass Menschen, deren Leben zu kurz war, eine zweite Chance bekommen, dass sie noch einmal geboren werden. Ich bete dafür, dass dies, besonders für Peter, der Fall ist. Ein schöner, gescheiter, mutiger Junge, der durch das Unglück am Weiterleben gehindert wurde.«
Während Mrs. Farland sprach, beobachtete Holmes die beiden Mädchen Alice und Christine. Er sah, dass Alice aufgeregt auf ihre Freundin einredete.
Leise bat er Dr. Watson, ihm zu folgen, und bewegte sich in Richtung Mr. und Mrs. Harrison. Von hinten flüsterte er Mrs. Harrison ins Ohr: »Täuschen Sie eine Ohnmacht vor. Sofort! Watson und ich werden Sie mit den Mädchen in Ihre Kabine bringen. Es ist lebensnotwendig.«
Gekonnt ging Mrs. Harrison in die Knie und fiel der Länge nach auf die Schiffsplanken.
»Machen Sie Platz, ich bin Arzt!«, rief Watson und kümmerte sich um die Frau.
Holmes nahm sich inzwischen der beiden Mädchen an und verließ mit ihnen und mit Mr. Harrison das Bootsdeck.
Mrs. Harrison wurde auf eine Tragbahre gelegt und von zwei Stewards abtransportiert.
Die Schiffsband spielte beruhigende Weisen.
In der Kabine der Harrisons erklärte der Detektiv, warum er die Gedenkfeier in dieser Form unterbrochen hatte.
»Ihre Tochter, Mrs. Harrison, kann wieder reden. Ich sah, dass sie sich an ihre Freundin Christine wandte, um ihr etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Stimmt das, Christine?«
Christine nickte. Sie hatte Tränen in den Augen.
»Und weil ich vermute, dass das, was Alice zu sagen hat, von weitreichender Bedeutung ist und ihr eigenes Leben und das ihrer Freundin gefährden könnte, bat ich Mrs. Harrison, uns durch einen vorgetäuschten Ohnmachtsanfall den Abgang zu ermöglichen.«
Dann wandte sich Holmes an Alice: »Dir fiel etwas während der Feier auf, das dich so bewegte, dass du es Christine mitteilen musstest. Und du hast bemerkt, dass dies tatsächlich möglich war. Du konntest wieder sprechen.«
Das Mädchen nickte mehrmals, dann sagte es mit heiserer, ungeübter Stimme: »Ich habe den Mann erkannt, der Schuld am Tod von Peter ist. Er schleuderte Peter, der schon im Rettungsboot war, zurück auf die Titanic.«
»Du bist dir sicher?«
»Ja, ich bin mir sicher. Ich spürte, dass mit dem Mann etwas nicht stimmte, wenn ich ihn im Speisesaal oder sonstwo traf. Er wich mir aus, er wich auch meinen Blicken aus. Aber jetzt, als Peters Großmutter sprach, erkannte ich ihn.«
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