»Sie meinen durch einen weiblichen Vornamen?«
»Exakt. Auch wirkungsvollste Drogen sind nicht in der Lage, Ihr klares Denken auszuschalten. Bevor Sie mich fragen, woher ich weiß, dass Sie etwas genommen haben: Ich sehe das an den erweiterten Pupillen Ihrer noch immer sehr reizvollen Augen.«
»Ich danke für das Kompliment, falls es eines ist.«
»Was haben Sie mit der Kette der Ermordeten vor?«, fragte die Detektivin unvermittelt.
»Das ist eine interessante Frage.«
»Die eine ebenso interessante Antwort verdient.«
»Neuerlich ein Berufsgeheimnis«, bedauerte Sherlock Holmes.
Nach dem Abendessen lud Holmes die Damen und Herren an seinem und am Nachbartisch zu der Gedenkzeremonie um viertel vor zwölf ein.
»Auf dem Bootsdeck, bei den Rettungsbooten. Um die Feier würdig zu gestalten, ersuche ich jemanden von Ihnen, mich bei der Vorbereitung zu unterstützen.«
»Das mache ich«, meldete sich Linda Hornby, die vernachlässigte Braut Graham Hornbys.
Bevor Sherlock Holmes mit der jungen Frau, mit Watson und Bruce Ismay den Speisesaal verließ, wurde er von den Mädchen vom Nachbartisch bestürmt.
Christine Reynolds sprach für sich und ihre stumme Freundin. »Wir wollen unbedingt an der Gedenkfeier teilnehmen, Mr. Holmes. Vielleicht können Sie mit unseren Eltern reden. Die wollen uns zwingen, in der Kabine zu bleiben.«
Zu Alice und Christine sagte Holmes: »Ich tue, was ich kann.« Dann wandte er sich an Miss Reynolds und die Harrisons: »Es wäre mir durchaus recht, wenn die beiden jungen Damen anwesend wären.«
»Wir schlafen vorher und nachher. Ganz fest und tief und lang«, versprach Christine.
Holmes, Watson, der Journalist Conolly, Joseph Bruce Ismay und Linda Hornby beratschlagten, wie das Gedenken um Mitternacht gestaltet werden sollte.
»Sie sprachen gestern von einem Augenblick der Wahrheit, Mr. Holmes«, wandte sich Mr. Ismay an den Detektiv. »Ich muss gestehen, dass ich große Angst davor habe.«
»Sie wurden schon vor drei Jahren mit dieser Wahrheit konfrontiert«, beruhigte ihn der Detektiv. »Ich denke mir, dass manch andere, manch anderer, viel mehr zu befürchten hat. Darum wird es wichtig sein, die Feier still und würdevoll zu begehen.«
»Ich schlage vor, auch einen Geistlichen beizuziehen«, meinte Mrs. Hornby. »Er soll mit uns beten.«
Holmes war einverstanden. »Auch ich habe daran gedacht. Kapitän Hayes wird uns einen geeigneten Mann vorschlagen.«
Bis ins Detail war der Ablauf der Gedenkstunde um Mitternacht geplant, als sich um halb zwölf der Kapitän, die beiden Brüder Smith, Graham Hornby, John Hatter, die Harrisons mit ihrer Tochter Alice, Miss Reynolds mit Christine, Mrs. Hilda Farland, Joseph Bruce Ismay, Sherlock Holmes und Dr. Watson in Begleitung von Father Riley, einem anglikanischen Priester, sowie vier Mann der Bordkapelle auf dem Bootsdeck aufstellten. Auch die Schiffsbibliothekarin war erschienen. Robert Conolly, offiziell als verstorben geltend, war auf Ersuchen von Sherlock Holmes in der Suite des Detektivs geblieben.
Die Band stimmte Dies Irae in der Vertonung von Guiseppe Verdi an. Father Riley und die Musiker sangen den Text in lateinischer Sprache.
Dies irae, dies illa,
Solvet saeclum in favilla,
Teste David cum Sibylla.
Quantus tremor est futurus,
Quando judex est venturus,
Cuncta stricte discussurus!
Tag der Rache, Tag der Sünden,
Wird das Weltall sich entzünden,
wie und künden.
Welch ein Graus wird sein und Zagen,
Wenn der Richter kommt, mit Fragen
Streng zu prüfen alle Klagen!
Das Meer war völlig ruhig. Wie vor drei Jahren. Alle, die das Unglück überlebt hatten, berichteten von der atemlosen Stille auf der Titanic und in ihrer Umgebung, der Ruhe und der Kälte des Todes. Im Gegensatz zum 14. April 1912 tauchte an diesem Abend die fast volle Mondkugel das Schiff und seine Umgebung in helles, kaltes Licht, das sich weiß auf der sonst dunklen Wasserfläche spiegelte. Die Menschen waren in Wintermäntel gehüllt und trugen Kopfbedeckung und Handschuhe.
Als die Musik verklungen war, begrüßte Sherlock Holmes die fünfzehn anwesenden Damen, Herren und Kinder. »Vor drei Jahren spielten sich an dieser Stelle des Schwesterschiffes der Olympic dramatische Szenen ab, an denen einige von Ihnen Anteil hatten. Ein Augenblick der Wahrheit, den wir in der Erinnerung wachrufen wollen. Wer von Ihnen das Wort ergreifen will, kann dies jederzeit tun.« Mit der Feststellung »Die Wahrheit geht manchmal unter, aber sie stirbt nicht«, beendete der Detektiv seine kurze Ansprache.
Joseph Bruce Ismay, der britische Eigentümer der White Star Line , wandte sich mit folgenden Sätzen an die Anwesenden: »Ich dachte viel über das Unglück nach und meinen Anteil daran. Mir fällt dabei immer wieder eine Stelle aus dem Alten Testament ein. Die Bibelstelle, die den Bau der Arche durch Noah beschreibt. Jenes Schiff aus Holz war, der Bibel zufolge, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit und 30 Ellen hoch. Die Arche Noah hatte eine ähnliche Wasserverdrängung wie dieses Schiff oder wie sie die Titanic hatte. Die Arche war ein Schiff, das Leben ermöglichte, Tieren und Menschen das Überleben sicherte. Die Titanic war das nicht. Die Titanic brachte hundertfachen Tod. Warum?«
Mit dieser Frage beendete der Reedereibesitzer seine Ansprache, und der Geistliche öffnete ein schwarzes Buch mit einem goldenen Kreuz auf dem Einband und begann mit kräftiger Stimme zu lesen: »Da aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn. [ … ] Da sprach der Herr zu ihm: Alles Fleisches Ende ist vor mich gekommen; denn die Erde ist voll Frevels von ihnen; und siehe da, ich will sie verderben mit der Erde. Mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech inwendig und auswendig. Und mache ihn also: Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Weite und dreißig Ellen die Höhe. [ … ] Denn siehe, ich will eine Sintflut mit Wasser kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin ein lebendiger Odem ist, unter dem Himmel. Alles, was auf Erden ist, soll untergehen. Aber mit dir will ich einen Bund aufrichten, und du sollst in den Kasten gehen mit deinen Söhnen, mit deinem Weibe und mit deiner Söhne Weibern. Und du sollst in den Kasten tun allerlei Tiere von allem Fleisch, je ein Paar, Männlein und Weiblein, dass sie lebendig bleiben bei dir.«
»So ist es, Vater. So lautet die Bibelstelle, die mich so beschäftigt, mit der ich nicht zurande komme«, sagte Bruce Ismay. »Warum nur musste die Titanic zu einem Schiff des Todes werden?«
»Sie war«, begann der Geistliche, »nicht nur ein Schiff des Todes. Die Rettungsboote brachten Leben, neues, verändertes Leben für diejenigen, die nicht im eisigen Wasser zu Tode kamen. Eine Taufe für ein neues Leben.«
»Das sehe ich nicht so, Father Riley«, unterbrach ihn Mrs. Hilda Farland. »Ich möchte jeden Gedanken daran entschieden zurückweisen, dass die im Meer Ertrunkenen schlechtere Menschen waren als die Überlebenden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass dies nicht zutrifft. Mein Enkelsohn Peter und mein Mann waren mindestens so wertvolle Menschen wie ich, wie andere, die sich hier zu dieser Feier eingefunden haben.«
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