Dann wusch sie den Jungen mit kühlem Wasser, trocknete ihn anschließend mit unendlicher Zärtlichkeit ab, und dabei sprach sie die ganze Zeit beruhigend auf ihn ein. Er war müde und quengelig. Als er endlich eingeschlafen war, sah sie ihm beim Schlafen zu, ganz so, als wolle sie niemals wieder von seiner Seite weichen. Ihr Gesicht war immer noch tränennass. Meinem Blick wich sie aus. Ich konnte nicht reden. Ich hob die Hand, um ihr sanft mit den Fingern über die Wange zu streichen, aber sie ignorierte mich. Ich wollte meine Hand gerade wieder wegziehen, als sie plötzlich danach griff, sie umklammerte und küsste. Ich nahm sie in die Arme und hielt sie ebenso fest, wie sie unseren Sohn gehalten hatte.
»Vergib mir das nie, und ich werde es mir selbst auch nie vergeben«, sagte ich irgendwann.
Jetzt sah sie mich ruhig mit ihren dunklen Augen an.
»Du hast mir versprochen, unsere Familie würde niemals durch deine Arbeit zu Schaden kommen«, sagte sie einfach nur.
Das stimmte. Ich hielt mir mit beiden Händen den Kopf. Sie strich mir darüber, als sei ich ein Kind.
»Wie hat er ihn entführt?«
»Ich musste uns etwas zum Essen besorgen. Die Kinder waren es leid, ewig das Gleiche zum Abendessen vorgesetzt zu bekommen. Sie langweilten sich und waren frustriert. Und ich konnte nicht die ganze Zeit im Haus bleiben. Das war unmöglich. Also beschloss ich, auf den Markt zu gehen. Das Dienstmädchen sollte auf sie aufpassen. Der Wachmann stand vor der Tür. Sie sagt, die Kinder hätten auf dem Hof gespielt, und sie selbst hätte die Wäsche gemacht. Und plötzlich hörte sie nur noch Geschrei. Sie rannte nach draußen – und Amenmose war verschwunden. Das Tor stand offen. Der Wachmann lag auf dem Boden, und aus seinem Schädel strömte Blut. Sekhmet hatte versucht, den Mann daran zu hindern, Amenmose zu entführen. Er hat mit der Faust auf sie eingeschlagen. Dieses Untier hat mit der Faust auf meine Tochter eingeschlagen. Das war meine Schuld.«
Schluchzend rollte sie sich zusammen. Doch es bestand für sie kein Grund mehr zu weinen. Jetzt konnte ich sie in die Arme nehmen und trösten.
»Dieses Untier ist tot. Ich habe ihn umgebracht.«
Tanefert hob ihr tränennasses Gesicht, sah mich bestürzt an und begriff, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.
»Stell mir heute bitte keine weiteren Fragen. Ich werde darüber reden, sobald ich kann. Er ist aber tot. Er kann uns kein Leid mehr zufügen«, versicherte ich ihr.
»Er hat uns bereits zu viel Leid zugefügt«, erwiderte sie mit einer Aufrichtigkeit, die mir fast das Herz brach.
Die Köpfe der Mädchen schoben sich durch den Vorhang. Tanefert schaute auf und versuchte zu lächeln.
»Ist alles in Ordnung mit ihm?«, fragte Thuju und kaute an ihrer Jugendlocke.
»Er schläft, seid also leise«, antwortete ich.
Nedjmet starrte ihn an.
Doch als Sekhmet ihn erblickte, brach sie in Tränen aus. Ich sah den schwarzen Bluterguss neben ihrem Auge, die Kratzspuren auf ihren Armen und die Hautabschürfungen an ihren Beinen. Sie schluchzte so sehr, dass sie kaum Luft bekam, und die Tränen schossen ihr nur so aus den Augen.
»Wie konntest du das zulassen?«, weinte sie mit gebrochener Stimme.
Ich spürte die Scham, die sich über mich legte wie ein Mantel aus Lehm. Zärtlich küsste ich ihre Stirn, wischte ihr die Tränen vom Gesicht und sagte zu allen: »Es tut mir so leid.« Und dann verließ ich den Raum.
Ich setzte mich auf die niedrige Bank im Hof. Die Geräusche der Straße drangen zu mir, als kämen sie aus einer anderen, fernen Welt. Ich dachte über all die vielen Dinge nach, die geschehen waren, seit Kheti in jener Nacht an die Wand neben unserem Schlafzimmerfenster geklopft hatte. Jetzt klopfte mein Herz, gegen meine Rippen. Ich hatte meiner Familie großes Unrecht zugefügt, indem ich fortgegangen war. Zu dem Zeitpunkt hatte es nicht danach ausgesehen. Und vielleicht hatte ich auch keine andere Wahl gehabt. Aber Tanefert hat recht: Man hat immer die Wahl. Ich hatte mich für das Mysterium entschieden, und ich hatte einen hohen Preis dafür gezahlt. Und ich wusste nicht, wie ich den entstandenen Schaden jemals wieder in Ordnung bringen sollte.
Irgendwann kam Sekhmet nach draußen. Schniefend wischte sie sich mit ihrem Gewand über das Gesicht, setzte sich aber neben mich. Elegant hockte sie sich auf ihre Beine und lehnte ihren Körper gegen meinen. Ich legte meinen Arm um sie.
»Entschuldige«, sagte sie leise, »so etwas Schreckliches hätte ich nicht sagen dürfen.«
»Es war die Wahrheit. Ich verlasse mich darauf, dass du mir die Wahrheit sagst.«
Verständig nickte sie, als mache sie sich den Kopf dieser Tage einfach ein bisschen zu schwer mit dem vielen Denken.
»Warum hat dieser Mann Amenmose entführt?«
»Weil er mir unbedingt massiv wehtun wollte. Er wollte mir zeigen, dass er mir eines der wichtigsten Dinge meines Lebens einfach wegnehmen kann.«
»Warum tut ein Mensch so etwas?«
»Ich glaube nicht, dass ich das weiß. Vielleicht werde ich es niemals wissen.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»Er ist tot.«
Sie nickte und dachte darüber nach, sagte danach aber nichts mehr, und so saßen wir zwei einfach nur beieinander und lauschten dem lärmenden Chaos des Lebens auf der Straße. Wir sahen mit an, wie die Sonne aufging, höher und höher stieg und die Schatten vertrieb, und schließlich hörten wir die Mädchen lärmen: Sie waren in der Küche und begannen, das Essen vorzubereiten, stritten und lachten wieder.
Als ich wusste, dass meine Familie in Sicherheit war, stattete ich dem Palast einen letzten Besuch ab, um abschließend Bericht zu erstatten. Bei dem Gedanken daran, dieses Reich der Schatten neuerlich betreten zu müssen, krampfte sich mir das Herz zusammen. Anchesenamun musste jedoch unbedingt wissen, was ich über Haremhab in Erfahrung gebracht hatte – auf welche Weise er die neue Armee finanzierte und dass Sobek in seinen Diensten gestanden hatte. Diese Dinge waren entscheidende Waffen für ihre Verhandlungen. Sie konnte die Informationen als Druckmittel gegen den General einsetzen, durchblicken lassen, dass sie alles wusste, und ihm drohen, ihr Wissen an die große Glocke zu hängen, ihn damit bloßzustellen und in der Folge seines Amtes zu entheben. Das würde ihr die Möglichkeit geben, in ihrem Machtkampf mit Eje und Haremhab eine Waffenruhe zu erwirken. Sie, Khay und Simut starrten mich staunend an, als ich ihnen alles erklärte. Und nachdem sie mich gefragt hatten, was sie darüber hinaus noch wissen wollten, hatte ich mich verabschiedet. Ich hatte behauptet, Zeit mit meiner Familie zu brauchen, um mich von dem, was geschehen war, zu erholen. Ich verneigte mich, entfernte mich rückwärts, wie es vorgeschrieben war, drehte mich dann aber einfach um, ohne die Erlaubnis dazu erhalten zu haben. Ich hoffte aus tiefer Seele, dass man nie wieder von mir verlangen würde, diese totenstillen Hallen zu betreten.
***
Im Laufe der nächsten Tage legte sich eine anhaltende, drückende Hitze über das Land. Die Sonne brannte so gnadenlos vom Himmel, dass sich selbst die Schatten vor ihr verkrochen. In der Stadt brodelten die Prognosen, die Illusionen und die Gerüchte. Die Ankunft von Haremhabs Schiffen mit mehreren seiner Memphis-Divisionen hatte lautes Zetern und Furcht ausgelöst. Sie ankerten unweit des Hafens am Ostufer, und man rechnete jeden Moment mit einem Angriff oder der Belagerung der Stadt, aber die Tage vergingen, und nichts geschah. Die beständige Hitze und die unbeständige Zukunft erschwerten das alltägliche Leben und ließen es unbedeutend erscheinen, und dennoch gingen die Menschen weiterhin ihren gewohnten Beschäftigungen nach und arbeiteten, aßen und schliefen. Des Nachts herrschte indes eine strengere Ausgangssperre, als es sie je zuvor gegeben hatte, und so fühlte ich mich manches Mal, wenn ich mit Thot auf dem Dach saß, weil ich wieder mal nicht schlafen konnte, mir über alles und nichts den Kopf zerbrach und dabei zu den Sternen emporblickte, viel zu viel Wein trank und mir anhörte, wie die Wachhunde und streunenden Hunde einander zornig anbellten, als sei ich der letzte Mensch auf dieser im Mondlicht liegenden Welt.
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