Endlich hatte er den General erwähnt. Ich hakte nach.
»Warum Haremhab?«
»Die Zustände in diesem Land kann man nur beklagen. Unsere Grenzen werden bedrängt, unsere Schatz- und Kornkammern sind leer, und in unseren Tempeln und Palästen regieren Huren, Diebe und Fantasten. Nur Haremhab verfügt über die Autorität, den Beiden Ländern wieder zu Ruhm und Glanz zu verhelfen.« Und dann brüllte er: »Ich bin es, der die Macht über die Lebenden hat. Ich bin es, der die Götter sieht. Ich bin die dunkle Sonne. Ich bin Anubis. Ich bin die Finsternis!«
»Du hast also alles, was du getan hast, auf Haremhabs Befehl hin getan? Die Gegenstände im Palast, das Relief in der Säulenhalle, der Mord an Mutnedjmet? Und als Gegenleistung hat er dir Ruhm und Macht versprochen?«
»Ich nehme keine Befehle entgegen! Haremhab hat meine Fähigkeiten erkannt und meine Taten angeordnet. Aber er ist Soldat. Für die größeren Wahrheiten fehlt ihm jedweder Sinn. Das gesamte Ausmaß meiner Arbeit kennt er noch gar nicht, denn das geht weit über die Macht und die Politik dieser Welt hinaus. Denn was nützt uns diese Welt, wenn wir nicht auch nach dem Jenseits greifen?«
Mit meiner Lampe in der Hand schritt ich um ihn herum. Ich wusste, da war noch mehr.
»Vielen Dank für dein Geschenk, die Kiste mit Augen. Ich schätze mal, sie stammten von den Opfern, die ich gefunden habe.«
Selbstzufrieden nickte er.
»Sie wurden für dich gesammelt. Ein Tribut. Und ein Zeichen.«
»Augen sind alles, nicht wahr? Ohne sie verschwindet die Welt für uns. Leben wir in Finsternis. Aber wie bei einer Sonnenfinsternis ist die Dunkelheit an sich schon eine Offenbarung. ›Die Sonne ruht in Osiris. Osiris ruht in der Sonne!‹«
Er nickte.
»Ja, Rahotep; endlich fängst du an zu begreifen, die Wahrheit zu sehen …«
»Ich habe ein paar Glasphiolen in deiner Werkstatt gefunden. Was enthielten die?«, fragte ich.
»Das hast du auch nicht herausgefunden?«, kläffte er mich auf einmal verächtlich an. Knurrend stellte Thot sich neben mich.
»Ich habe Salz geschmeckt …«, sagte ich.
»Du hast nicht weit genug gedacht. Ich habe die letzten Tränen der Toten gesammelt, die Tränen, die ihnen in dem Moment, da sie den Tod nahen sahen, aus den Augen rannen. Die geheimen Bücher verraten uns, dass diese Tränen ein Elixier sind, das die Essenz all dessen enthält, was die Sterbenden in den letzten Momenten erleben, da sie vom Leben in den Tod übergehen.«
»Aber als du die Tränen getrunken hast – nichts. Nur Salz und Wasser, mehr nicht. So viel zu den Mysterien der geheimen Bücher.«
Er seufzte.
»Sie zu trinken sorgte für Wonnen, die dafür entschädigten.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass du deinen Opfern Drogen verabreicht hast, damit es einfacher war, deine Barbareien an ihnen zu begehen? Ich denke mir mal, sie haben sich nicht gewehrt. Ich schätze mal, du konntest ihnen im Detail zeigen, welche Qualen du ihren armen Leibern zufügtest.«
»Wie immer bist du nicht in der Lage, die tiefere Bedeutung zu erfassen. Zum einen habe ich sie getötet, um den König zu warnen. Ich wollte aber auch noch etwas anderes, etwas Tiefschürfenderes.«
»Du wolltest dabei zusehen.«
Er nickte.
»Der Augenblick des Todes ist der glorreichste Moment des Lebens. Diesen Augenblick mitzuerleben, zu sehen, wie die sterbliche Hülle ihre Seele hergibt, um sie aus größter Finsternis ins Licht des Totenreiches entschwinden zu lassen, bedeutet, dem großartigsten Hochgefühl beizuwohnen, das dieses Leben zu bieten hat.«
»Aber deine Experimente sind gescheitert, nicht wahr? All die gebrochenen Knochen, die Goldmasken und die toten Gesichter erwiesen sich als lächerliche Requisiten. Da war keine Erhabenheit. Die Droge sorgte für Illusionen, aber nicht für Visionen. Die Toten sind einfach nur gestorben, und außer Schmerz und Leid hast du in ihren Augen nichts gesehen. Und deshalb brauchst du das hier.«
Ich schwenkte den Lederbeutel vor seinen faszinierten Augen hin und her. Er wollte danach greifen, aber Thot baute sich sofort drohend vor ihm auf, und ich hielt den Beutel weiter weg.
»Eines verrate mir noch, bevor ich dir das hier aushändige und du mir meinen Sohn zurückgibst. Wie bist du in den Besitz des Schlafmohns gelangt?«
Das Erstaunen, das in seinen gefühllosen Augen aufflackerte, befriedigte mich.
»Da ist sehr leicht dranzukommen«, erwiderte er vorsichtig.
»Natürlich, für medizinische Zwecke, in kleinen Mengen, für einen Arzt wie dich. Hier geht es aber um wesentlich mehr, es wird insgeheim Handel damit getrieben. Ich glaube, dass du darüber sehr viel weißt.«
»Ich weiß nichts darüber«, murmelte er.
»Unsinn. Die Nachfrage nach dem Luxus ihrer Wonnen ist inzwischen so hoch, dass es gar nicht genug verzweifelte Mädchen und Jungen gibt, die man als Schieber benutzten könnte, um sie zu decken. Die werden lediglich weiter eingesetzt, um die städtische Medjai vom eigentlichen Vertriebsnetz abzulenken. Ich will dir von diesem Vertriebsnetz erzählen. Der Schlafmohn wird in den Ländern der Hethiter angebaut, und sein Saft wird dann per Schiff durch den Hafen nach Theben geschmuggelt. Die Droge wird in den Etablissements gelagert und auch verkauft. Alle Beamten, auf sämtlichen Ebenen – von den Grenzsoldaten über die Hafenbeamten bis hin zu den Schreibtischhengsten, die den Etablissements ihre Lizenzen ausstellen –, beziehen Schmiergelder. Jeder muss überleben, ganz besonders in diesen schweren Zeiten. Was ich faszinierend finde, ist jedoch das hier: Die Hethiter sind unsere Feinde, wir führen Krieg gegen sie. Wie gelingt es also der Fracht, in diesen Kriegszeiten aus dem Land unserer Feinde die von der Armee gesicherte Grenze zu passieren? Darauf gibt es nur eine Antwort. Und die lautet: Die Armee ist ebenfalls in den Handel verstrickt.«
»Welch außerordentliche Fantasie! Warum sollte die Armee über eine derartige Sache hinwegsehen?«, spottete er.
»Das viele Geld, das sich mit einem solch geheimen Handel verdienen lässt, versetzt Haremhab in die Lage, sich wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Königlichen Schatzamt zu verschaffen. Das ist die moderne Welt. Die Zeiten, in denen auf primitive Weise geplündert, geraubt und gestohlen wurde, sind lange vorbei. Und eine Armee, die sich aus eigenen Mitteln finanziert, gut ausgestattet und bestens ausgebildet ist, ist ein äußerst gefährliches Monstrum.«
Er schwieg eine ganze Weile.
»Selbst wenn diese haarsträubende Fantasterei der Wahrheit entspräche, hätte das Ganze nichts mit mir zu tun«, meinte er dann.
»Selbstverständlich hat es das. Du weißt das alles. Du bist der Doktor. Deine Kenntnisse über Halluzinogene machen dich zu einem sehr wertvollen Mitarbeiter. Haremhab hat dich nicht nur eingestellt, damit du seiner geisteskranken Frau Drogen verabreichst, er wollte dich auch als Aufseher über seine Geschäfte hier in Theben. Du überwachst die Ankunft der Ladungen im Hafen, und du sorgst dafür, dass sie sicher an die Etablissements weitergeleitet werden. Ich glaube indes nicht, dass Haremhab das gesamte Ausmaß deiner ekelhaften privaten Aktivitäten kennt. Oder doch?«
Mit seinen leeren Augen sah er mich an.
»Sehr gut, Wahrheitssucher. Meine Kunstwerke waren mein persönlicher Tribut an Haremhab. Sie waren ein Beitrag zu seinem Machtkampf, meine Spende aus Chaos und Furcht. Aber was nützt dir dieses Wissen? Es gereicht dir eher zur Verdammnis. Ich kann dich nicht gehen lassen. Du sitzt in dieser Unterwelt aus Finsternis in der Falle. Du wirst nie ins Licht zurückfinden. Also kann ich dir jetzt getrost die Wahrheit sagen. Und dich dann dabei beobachten, wie du leidest. Deiner Trauer beiwohnen zu dürfen wird wie eine Vision sein, und die wird mich blendend für die andere Vision entschädigen. Ich bin schließlich kein Narr. Wer weiß schon, ob das, was du da mitgebracht hast, überhaupt echt ist und nicht nur eine Fälschung?«
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