Nacht zündete seine Öllampe an, und wir überquerten den offenen Platz und liefen auf das Haus des Lebens zu. Doch statt dort hineinzugehen, führte er uns rechts an dem Bauwerk entlang. Wir folgten ihm durch mehrere dunkle Gänge an verschiedenen Gebäuden vorbei – Werkstätten und Dienststuben, die in der Nacht verlassen waren. Die Wege wurden schmaler, und statt an Häusern führten sie bald an Lagerräumen und Speichern vorüber, bis wir schließlich die hohe hintere Mauer der Tempelanlage erreichten. Genau dort befand sich ein winziger, uralter Bau. Als wir näher kamen, sah ich, dass die Gestalt des Osiris, des Totengottes, überall in die Wände gemeißelt war. Er trug seine weiße Krone, die mit zwei Federn geschmückt und mit zahlreichen Paneelen voller Inschriften versehen war.
»Diese Kapelle ist Osiris geweiht«, wisperte Kheti.
»Ganz recht«, entgegnete Nacht. »Dem Gott des Totenreiches, dem Gott der Nacht, der Finsternis und des Todes vor dem Leben … aber in Wahrheit ist er natürlich der Gott des Lichts jenseits des Lichts, wie wir es ausdrücken. Der Gott der Erleuchtung und des geheimen Wissens.« Kheti nickte, als verstünde er, und dann sah er mich an und hob fragend die Brauen.
Wir gingen durch die Vorkammer und betraten den kleinen, dunklen Innenraum des Tempels. Rasch zündete Nacht die Öllampen an, die überall in den Wandnischen standen. Der schwere Duft von Weihrauch wehte durch die Luft. Er wies mir einen Platz hinter einer der Säulen unweit des Eingangs zu. Von dort aus hatte ich alles im Blick, sowohl das Geschehen wie auch jeden, der sich näherte. Dann machten wir es uns bequem und warteten. Und irgendwann trafen nacheinander zwölf weitere Männer ein, die weiße Gewänder trugen. Zwei davon erkannte ich wieder, denn sie waren bei Nachts Dachparty gewesen: der Poet mit den blauen Augen und der Architekt. Alle Anwesenden trugen eine Goldkette um den Hals, an der ein goldener Anhänger hing. Darauf war ein Kreis aus Obsidian: die schwarze Sonnenscheibe. Äußerst aufgeregt begrüßten sie Nacht, und dann inspizierten sie Kheti wie einen Sklaven, der zum Verkauf stand. Schließlich fehlte nur noch Sobek. Ich spürte, wie mein Plan mir wie Sand zwischen den Fingern zerrann. Ging er mir am Ende doch nicht in die Falle?
Nacht versuchte, Zeit zu schinden.
»Einer von uns fehlt noch«, sagte er irgendwann laut genug, dass ich es hören konnte. »Wir sollten auf Sobek warten.«
»Da bin ich anderer Ansicht«, rief einer der Männer, »denn es wird immer später, und wir sollten ohne ihn mit der Zeremonie beginnen. Warum sollte der Gott auf Sobek warten?« Im Chor pflichteten die anderen Männer ihm bei. Nacht hatte keine andere Wahl, als anzufangen. Aus meinem Versteck hinter der Säule sah ich mit an, wie er Kheti mit einem schwarzen Tuch die Augen verband, damit er nicht mitverfolgen konnte, was um ihn herum vorging. Dann trug man eine kleine Kiste herein, und aus der wurde eine goldene Truhe zutage gefördert. Die Truhe wurde geöffnet und enthielt eine Tonschale, deren Form der Gestalt eines Menschen glich, und darauf lag etwas, was aussah wie ein Weißbrot oder ein Kuchen, und auch das hatte die Form eines menschlichen Körpers.
Nacht stellte sich vor den Kuchen und stimmte ein Loblied an: »Ehre sei dir, Osiris, Herr der Ewigkeit, König der Götter, dir, der du viele Namen hast, dessen Gestalten heilig, dessen Eigenschaften verborgen sind …« , und so ging es immer weiter, bis die Beschwörung irgendwann endete. Dann wurde der Kuchen aus der Schale gehoben, in vierzehn Stücke geteilt, und jeder der Männer verzehrte feierlich eines davon. Ich nahm an, dass diese vierzehn Kuchenstücke die vierzehn Teile repräsentierten, in die Seth, der eifersüchtige Bruder des Gottes, Osiris zerstückelte, nachdem er ihn ermordet hatte. Jetzt wurde der Gott durch das Ritual in jedem der Männer wiedergeboren. Ein Stück des Kuchens wurde für Sobek übriggelassen.
Nachdem die mysteriöse Zeremonie beendet war – und ich gestehe, dass ich sehr enttäuscht war, da es sich dabei lediglich um ein symbolisches Mahl zu handeln schien –, versammelten sich die Männer für das Experiment des Abends um Nacht. Er zog einen Lederbeutel aus seinem Gewand und schwang dann erst einmal eine lange Rede – zum Teil, um weiter Zeit zu schinden –, indem er immer und immer wieder ausführte, was er über die Potenz und die Eigenschaften dieses Pilzes der Götter wusste, und dass er hoffe, das Gewächs verursache Visionen der Götter. Von Sobek fehlte nach wie vor jede Spur.
Als ihm schließlich bewusst wurde, dass keine Zeit mehr blieb, öffnete Nacht den Beutel und entnahm mit einem Kosmetiklöffelchen eine Probe des Pulvers. Fasziniert von seiner legendären Wirkmächtigkeit nahmen die Eingeweihten es genauestens in Augenschein. Den nach wie vor mit verbundenen Augen dasitzenden Kheti plagte inzwischen sicher arges Lampenfieber, denn jetzt nahte der große Moment des Experiments. Doch plötzlich verkündete Nacht: »Lasst uns dieses Wunder nicht an einen einfachen Diener verschwenden. Ich selbst werde den Pilz der Götter zu mir nehmen.«
Die Männer im Rund nickten begeistert. Ich konnte mir vorstellen, wie das Kheti erleichterte. Nacht musste zu der Überzeugung gelangt sein, dass Khetis Schauspielkünste nicht ausreichen würden, und vielleicht dachte er sich auch, dass er auf seine eigene künstlerische Darbietung mehr Zeit verwenden konnte, für den Fall, dass Sobek doch noch auftauchte.
»Du bist in der Lage, uns deine Visionen im Detail und gebildet zu beschreiben, dazu ist der Diener nicht fähig«, meinte der blauäugige Poet herablassend.
»Und wir werden alles aufschreiben, was du sagst, wenn du die Vision hast.«
»Vielleicht verwandelst du dich in ein lebendes Orakel«, meinte ein anderer aufgeregt.
Mit großen und feierlichen Gesten gab Nacht einen Löffel des Pulvers in einen Becher mit frischem Wasser und trank es in bedächtigen, langsamen Schlucken. Es war totenstill im Raum, und alle Männer starrten verzückt und erwartungsvoll in Nachts ernstes Gesicht. Zunächst passierte gar nichts. Er lächelte und zuckte leicht mit den Achseln, als sei er enttäuscht. Aber dann wich der ernste Ausdruck von seinem Gesicht, und an seine Stelle trat angestrengte Konzentration. Hätte ich nicht gewusst, dass er das Ganze nur spielte, wäre ich von der Echtheit seiner Vision überzeugt gewesen. Zunächst hob er langsam und mit nach oben gedrehten Handflächen die Arme, dann auch den Blick. Nun schien er sich in einem Trancezustand zu befinden. Mit weit geöffneten Augen und ohne zu blinzeln, starrte er auf eine substanzlose Erscheinung, die überhaupt nicht da war.
Und im nächsten Moment wurde das, was bis jetzt nur eine schauspielerische Glanzleistung gewesen war, Realität. Ein Schatten fiel auf den Kranz zwischen dem Halbschatten des Altarraums und dem Licht der ruhig brennenden Öllampen. Die Gestalt, die diesen Schatten warf, bestand aus reiner Schwärze; sie war klein, fast so klein wie ein Tier, und der schwarze Umhang, der sie vom Scheitel bis zur Sohle verhüllte, verbarg sowohl ihre Körperformen als auch ihre Gesichtszüge. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als lege sich ein Umhang eisiger Furcht über mich. Ich zog mein Messer aus der Scheide, packte die Gestalt von hinten und hielt ihr die Klinge an die Kehle.
»Geh drei Schritte weiter vor.«
Die Gestalt schlurfte wie ein Schlachttier auf dem Markt ins Licht der Öllampen. Mit ungläubigen Mienen starrten die Eingeweihten auf diesen Eindringling, dessen Auftauchen so unerwartet wie inakzeptabel war.
»Dreh dich um«, befahl ich.
Sie gehorchte.
»Nimm die Kapuze herunter.«
Sie tat es und zog langsam den Stoff von ihrem Kopf.
Das Mädchen war kaum älter als meine Tochter Sekhmet. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie sah aus wie ein Mädchen, an dem man auf der Straße vorbeigehen würde, ohne es zu bemerken. Zitternd und japsend saß sie auf der niedrigen Bank und umklammerte mit den Händen einen Becher mit Wasser. Nacht legte ihr behutsam einen Stoffschal um die Schultern und entfernte sich dann wieder, zum einen, damit wir zwei ungestört waren, zum anderen, um die Mitbrüder seines Geheimbundes, deren Protest mit jeder Sekunde lauter wurde, zu beruhigen.
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