Rauch wehte über das riesige freie Gelände vor dem Tempel. Die Menschenmassen reichten bis zur Straße der Sphingen. Einige sangen, andere brüllten, die meisten beteten. Ich beobachtete sie vom Dach des Tempeltores. Schnell und unbemerkt waren wir zunächst per Schiff und dann per Streitwagen unter dem Schutz von Simuts Wachen zum Tempel gelangt. Jetzt hoben die Trompeter auf sein Zeichen ihre langen, silbernen Instrumente Richtung Horizont und bliesen eine Fanfare. Schlagartig verwandelte sich die chaotische Unzufriedenheit der Massen in Aufmerksamkeit. Das Spektakel, nach dem sie verlangt hatten, begann.
Die Königin trat aus dem Tor. Sie trug die goldenen Staatsgewänder und die Kronen, und als deutlich wurde, dass sie allein war, wurde aus der Stille ein einziges Kreischen und Brüllen. Doch sie strahlte förmlich in den langen, flachen Schatten des frühen Abends. Sie lief weiter nach vorn, bestieg das Podest, ignorierte das Jammern und Klagen, stand einfach nur da und stellte sich dem großen Biest der Massen. Sie wartete darauf, dass man sie sprechen ließ. Wer den stärkeren Willen hatte, würde siegen. Endlich wurde es still. Ich sah Tausende von Gesichtern; verzückt, verängstigt, treu ergeben sahen sie, wie sie da stand in all ihrer Pracht.
»Dies ist ein Tag der wundersamen Omen gewesen«, rief sie in die Menge. »Die Götter haben sich uns offenbart. Wir wollen zu ihnen beten.«
Anmutig hob sie die Arme, und nicht lange, und viele folgten ihrem Beispiel. Und jene, die es nicht taten, waren zumindest zum Schweigen gebracht.
»Re, der König der Götter, hat über die Mächte der Finsternis und des Chaos triumphiert. Das Leben ist erneuert worden. Die Pracht und die Macht der Beiden Länder sind erneuert worden. Doch hat er sich in diesem Moment etwas genommen, was er unbedingt haben wollte. Was er genommen hat, bedeutet uns viel. Mehr als Gold und mehr als das Leben. Und so stehe ich hier jetzt vor euch als die Tochter von Königen und als die Tochter der Göttin Maat, die Gerechtigkeit und Ordnung schafft, um euch die Botschaft zu übermitteln, welch großes Opfer wir gebracht haben und wie groß der Gewinn des Gottes ist. Denn in jenem Augenblick der Finsternis, den alles, was lebt, miterlebt hat, wurde König Tutanchamun mit Re vereint, wie der König mit Re vereint werden muss. Und wie es geschrieben steht in den großen Büchern, ist er nun eins mit dem König der Götter. Und die Welt ist erneuert. Die Welt ist wiedergeboren.«
Laut schallten ihre Worte über das Gelände. Heulen und Wehklagen wurden laut, verbreiteten sich in der Menge und in der Stadt. Ich sah Leute, die sich einander zuwandten. Viele schienen überzeugt zu sein, ein paar wenige zuckten mit den Achseln, als seien sie sich nicht sicher, ob sie das glauben sollten. Sie kannten die Geschichte, dass der König der Erneuerung des Lebens geopfert wurde, denn das ist eine der ältesten Geschichten, mit denen uns der Lauf der Welt erklärt wird. Und Anchesenamun hatte sie sich sehr klug zunutze gemacht. Die Massen konnten ihre Worte durchaus überzeugen. Die Elite würde jedoch mit Sicherheit einer anspruchsvolleren Erklärung bedürfen, allerdings würde es ihnen schwerfallen, die Geschichte in Zweifel zu ziehen.
Anchesenamun legte nach.
»Jetzt stehe ich hier vor euch. Ich bin die Lieblingstochter des Re. Ich bin maat . Ich bin die Ordnung über das Chaos. Ich bin das Auge des Re am Bug des Schiffes der Götter. Unter meiner Herrschaft werden unsere Feinde in der Finsternis verderben und wird unsere Welt im Licht der Götter blühen und gedeihen.«
Diesen Worten folgte eine überzeugungskräftige Trompetenfanfare, und danach jubelte das Gros der Massen ihr zu. Der Mut und die Schönheit der Königin schienen sie überzeugt zu haben. Ich sah aber auch, dass es andere gab, die sich abwandten und unzufrieden die Köpfe schüttelten. Noch war die Schlacht um die Beiden Länder nach dem Tod Tutanchamuns nicht gewonnen. Wenn ich beweisen konnte, dass zwischen Haremhab und Sobek eine Verbindung bestand, konnte der General seine Stellung nicht länger behaupten. Wenn ich das nicht schaffte, sah ich im Moment nichts, das ihn daran hindern konnte, die Herrschaft über das Königreich im Namen der Armee an sich zu reißen.
Am gleichen Abend noch kehrte ich zurück zu Nachts Stadthaus, dieses Mal in Begleitung von Thot. Minmose erbot sich, mir den Schädel zu rasieren, denn wenn ich die Tempeltore passieren wollte, musste mein Äußeres wieder einmal dem eines Priesters entsprechen. Während ich mit einem Lappen um den Hals unter seiner Klinge saß, traf Kheti ein. Er hatte das Glück, keine rituellen Waschungen über sich ergehen lassen zu müssen, denn er spielte Nachts Versuchskaninchen – eine nicht-elitäre Rolle.
»Hast du eine Wache vor mein Haus postiert?«, fragte ich ihn als Allererstes.
Er nickte. »Tanefert hielt das für eine Zumutung und war nicht glücklich darüber. Ich habe mich aber bemüht, ihr so gut wie möglich zu erklären, dass das nötig ist, ohne sie zu ängstigen.«
Erleichtert atmete ich auf.
»Und hast du ihr eingeschärft, dass die Kinder in keinem Fall ausgehen dürfen?«
»Habe ich getan. Mach dir keine Sorgen. Sie sind alle in Sicherheit. Sie werden Tag und Nacht bewacht.« Im nächsten Moment begann er, leise zu kichern, und meinte: »Als Priester wirkst du äußerst unglaubwürdig.«
»Sei vorsichtig, Kheti. Nicht mehr lange, und du befindest dich in einer Lage, mit der du dich noch erheblich mehr kompromittieren könntest.«
Er nickte.
»Genau das gefällt mir so an meiner Arbeit. Jede Nacht was anderes. Am einen Abend gehe ich auf den Straßen Streife, am nächsten schlucke ich gefährliche Halluzinogene …«
»Nacht hat etwas zusammengebraut, was zwar haargenau aussieht wie der Pilz, aber überhaupt keine Wirkung hat.«
»Heißt das, dass ich die Wirkung spielen muss?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Nacht, der gerade, in weiße Gewänder gehüllt, den Raum betrat. »Ich habe aus gemahlenen Bohnen ein Simulacrum des getrockneten Pilzes hergestellt.«
»Ich hasse Bohnen«, erwiderte Kheti. »Meine Frau kocht die immer, aber sie haben entsetzliche Folgen bei mir …«
»Mehr als einen Mundvoll brauchst du nicht davon zu konsumieren, also sollten sich die widerlichen Konsequenzen in Grenzen halten«, sagte Nacht. Und fügte sogleich hinzu: »Was mit Sicherheit für uns alle eine Erleichterung sein wird.«
»Aber über was für Dinge soll ich denn reden, wenn ich das Pulver genommen habe?«, wollte Kheti wissen.
»Zu Anfang über gar nichts. Und dann stellst du dir einfach vor, dass das Licht des Himmels sich dir offenbart hat. Und gestattest deinem Geist, die Erleuchtung der Götter zu empfangen.«
»Und wie sieht das aus?«, fragte Kheti.
Nacht bedachte mich mit einem skeptischen Blick.
»Denk an Licht. Beschreibe die Schönheit des Lichts, und dass du die Götter siehst, die im Licht wandeln, als sei Licht gleichbedeutend mit Denken und Denken gleichbedeutend mit Licht.«
»Werde ich versuchen«, meinte Kheti zögerlich.
Nacht hatte Streitwagen bestellt, die uns von seinem Haus über die lange Straße der Sphingen zum Großen Tempel von Karnak brachten. Die Straßen waren finster. Mir fiel auf, dass zahlreiche Geschäfte vernagelt, die Innenräume anderer Läden von Rauch geschwärzt waren – Schäden, zu denen es während der Unruhen gekommen war. Doch schien jetzt wieder Ruhe in der Stadt eingekehrt zu sein. Wir erreichten die Tore, und Nacht sprach mit den Tempelwachen, die Kheti und mich im Licht ihrer Lampen in Augenschein nahmen. Nacht war in der Stadt eine Berühmtheit, und ich betete, dass sie ihm nur wenige Fragen stellten. Eine ganze Weile plauderte er fröhlich mit ihnen, dann winkte man uns mit einem letzten fragenden Blick durch. Wir ließen das Tor hinter uns und gelangten einmal mehr auf den gewaltigen, in der Dunkelheit nur schemenhaft erkennbaren Platz im Inneren der Tempelmauern. Hinter den großartigen und leicht erhöht stehenden gehämmerten Schalen, in denen man auf der gesamten Anlage Öl entzündet hatte, sodass sie aussahen wie kleine Sonnen, verschwand alles in undeutlichem Halbschatten.
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