Und dann stieß er einen Schrei aus, der exakt so klang wie die Schreie meines verschwundenen Jungen. Das Obsidianmesser der Angst stach mir zwischen die Rippen und traf mich mitten ins Herz. War Amenmose, mein Sohn, tot? Ich spürte, dass es zu spät war. Er hatte gewonnen.
»Was hast du mit meinem Sohn gemacht?« Mir brach fast die Stimme.
Ich trat einen Schritt auf ihn zu. Sofort trat er einen Schritt zurück und hob seine Lampe, um mich zu blenden und sein Gesicht zu verbergen.
»Weißt du, was Osiris dem Großen Gott in die Ohren weinte, als er im Totenreich eintraf? ›Oh, was ist das hier für ein verlassener Ort? Hier gibt es kein Wasser, keine Luft, die Tiefe ist unergründlich, die Finsternis so schwarz wie die Nacht. Muss ich hoffnungslos hier wandeln, wo man nicht in Frieden leben und die Sehnsucht nach Liebe befriedigen kann?‹ Ja, mein Freund, ich habe deinen Sohn zu einer kleinen Opfergabe für den Totengott Osiris gemacht. Ich habe ihn sehr, sehr gut in den Untiefen dieser Katakomben versteckt. Noch ist er am Leben, aber du wirst ihn niemals finden, auch nicht, wenn du alle Zeit der Welt hättest. Ihr werdet beide hier verhungern, verschollen in eurem ureigenen Totenreich. Jetzt, Rahotep, ist dein Gesicht wirklich im Haus der Finsternis geöffnet worden.«
Ich wollte mich auf ihn stürzen, und Thot stellte sich auf die Hinterbeine, knurrte ihn an und fletschte die Zähne, aber im gleichen Moment warf Sobek seine brennende Öllampe auf mich und verschwand in der Finsternis.
Ich nahm Thot den Maulkorb ab, und er sprang davon in die Dunkelheit. Hinter mir an der Wand loderte rot das brennende Öl, das aus Sobeks Lampe gespritzt war. Ich hörte Thot brüllen und anschließend, zu meiner Freude, laute Schreie. Doch brauchte ich Sobek lebend, damit er als Zeuge aussagen und vor allem, damit er mir meinen Sohn zurückgeben konnte. Laut und mit Nachdruck rief ich meinem Pavian einen Befehl zu und rannte dabei durch den finsteren Tunnel auf die Gestalt zu, die auf dem Boden kauerte. Ich hielt meine Lampe hoch. Thot hatte Sobek tief in die Kehle gebissen; eine weitere Fleischwunde hatte ihm die eine Gesichtshälfte zerfetzt, das Auge aus der Augenhöhle gerissen, und seine Wange hing lose herunter, sodass der Knochen und die Blutgefäße darunter freigelegt waren. Aus der Wunde am Hals sickerte schwarzes Blut. Ich kniete mich auf den Boden und zog sein ruiniertes Gesicht dicht an meines heran.
»Wo ist mein Sohn?«
Das Blut gurgelte in seinem Mund, als er zu lachen versuchte.
Ich drückte ihm meine Daumen fest auf die Augen.
»Was siehst du jetzt?«, wisperte ich ihm ins Ohr. »Nichts. Da ist nichts. Du bist ein Nichts. Es gibt kein Totenreich. Diese Finsternis, die du siehst, ist deine Ewigkeit.«
Ich drückte fester und fester, so fest, dass ich das versehrte Auge zurück in die Augenhöhle schob. Er trat mit den Beinen in den Staub wie ein Schwimmer, der sich auf dem Festland vor dem Ertrinken retten will, und quiekte wie eine Ratte. Ich spürte das Blut unter meinen Fingern, drückte aber trotzdem weiter, bis sein verderbtes, barbarisches Herz den letzten Tropfen Blut aus seinem Körper gepumpt hatte und er tot war.
Dann stand ich auf und trat mit den Füßen auf seinen nutzlosen Leichnam ein, stampfte auf den Überresten seines Gesichts herum, immer und immer wieder. Als mich die Kräfte verließen, sank ich auf den Boden und begann zu schluchzen, denn ich hatte versagt. Sein Tod hatte nichts bewirkt. Ich hatte mich versündigt. Die Öllampe brannte jetzt sehr schnell aus. Aber das interessierte mich nun nicht mehr.
Und dann – hörte ich etwas. In weiter, weiter Ferne: die wimmernden Schreie eines Kindes, das aus einem Albtraum erwachte und feststellte, dass es mutterseelenallein war, in der Finsternis …
»Ich komme!«
Amenmose antwortete mir, indem er noch lauter schrie.
Thot jagte los, hinein in die Untiefen der Finsternis, und ich folgte ihm, denn er nahm mir sämtliche Entscheidungen ab, indem er selbstsicher mal nach links und mal nach rechts lief. Derweil schrie Amenmose weiter, und ich schrie zurück, und so schrien wir um unser beider Leben, ein Vater und ein Sohn.
Thot fand ihn am Ende eines extrem niedrigen Stollens. Sein Köpfchen ragte aus einem Topf heraus, der selbst für einen ausgewachsenen Pavian groß genug gewesen wäre. Sein Gesicht war von Tränen und Dreck verklebt, und seine Schreie klangen untröstlich. Mit scharrenden Bewegungen suchte ich auf dem Boden nach einem Stein, mit dem ich den Topf zertrümmern konnte, ohne ihn zu verletzen. Und zugleich küsste ich den heulenden Jungen, versuchte, ihn ein wenig zu beruhigen, und rief immer und immer wieder »Amenmose, mein Sohn« . Der erste Schlag brachte den tönernen Topf nicht zum Bersten, sondern sorgte lediglich dafür, dass der Kleine nur noch lauter zu heulen begann. Erst nach einem weiteren, festeren Schlag brach der Topf entzwei. Ich zog an den Scherben, der Dreck fiel mir entgegen, und dann hielt ich endlich den zitternden, kalten und verdreckten Körper meines Sohnes in den Armen.
Inzwischen flackerte die Lampe. Wir mussten versuchen, hier herauszukommen, bevor sie ganz erlosch. Ich rief Thot einen Befehl zu. Er brüllte, als verstehe er genau, was ich wollte, und sprang voraus. Ich klemmte mir meinen Sohn unter den Arm und rannte ihm nach, war aber nicht in der Lage, zugleich auch noch die Flamme zu schützen.
Allzu bald hauchte sie ihr Leben aus.
Vollkommene Finsternis. Der Junge wimmerte und fing wieder an zu weinen. Beruhigend redete ich auf ihn ein, versuchte, ihn zu trösten.
»Thot!«
Der Pavian sprang sofort neben mich, und ich tastete nach seinem Halsband und legte ihm im Dunkeln die Leine an, wie ich es im Hellen schon so häufig getan hatte. Danach lief er tiefer in die Schwärze, und ich konnte ihm nur folgen und dabei versuchen, den Jungen vor Schaden zu bewahren, denn wir prallten ständig gegen irgendwelche Wände oder stolperten auf dem unebenen Boden. Hoffnung, dieses zerbrechlichste aller Gefühle, flackerte ebenso schwächlich in mir, wie das Licht der Lampe am Ende geflackert hatte. Verzweifelt küsste ich die Augen meines Sohnes. Er war jetzt still, als tröste es ihn, dass ich in der Dunkelheit bei ihm war, als sei dadurch jetzt jedes Schicksal akzeptabel.
Mit einem Mal sah ich für den Bruchteil einer Sekunde Licht in der Dunkelheit aufblitzen. Vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet, vielleicht war es nur ein Fantasiegebilde meines verzweifelten Hirns gewesen. Doch fing Thot neuerlich zu brüllen an, und im nächsten Moment flackerten zwei Lichter auf, und ich vernahm Rufe, die klangen, als würden sie aus weiter Ferne, aus der verlorenen Welt des Lebens und des Sonnenlichts, zu mir dringen. Ich brüllte zurück. Die Lichter drehten und sammelten sich und kamen auf uns zu wie die heilige Errettung von den Schatten. Während sie näher und näher kamen, blickte ich nieder auf das Gesichtchen meines Sohnes. Als er die Lichter in der Finsternis erblickte, riss er die Augen weit auf und schaute darauf, als seien sie Teil einer Fabel, der Teil, der ihn in seiner Schauergeschichte zum Happy End geleiten würde.
Im flackernden Licht der ersten Lampe erkannte ich ein vertrautes, besorgt und zugleich erleichtert dreinblickendes Gesicht. Kheti.
Als ich Amenmose den Weg hinauf und ins Haus getragen hatte, war Tanefert auf die Knie gesunken, mit offenem Mund, aus dem lautlos die Qual und die Erleichterung schrien. Sie nahm ihn in die Arme und ließ ihn nicht mehr los. Irgendwann, nachdem ich lange genug sanft auf sie eingewirkt hatte und es mir gelungen war, ihn aus ihrem Klammergriff zu befreien und in sein Bettchen zu legen, ging sie dann auf mich los, schlug mit ihren Fäusten auf meinen Körper und mit den Händen auf mein Gesicht ein, als wolle sie mich zerreißen. Und die Wahrheit ist, dass ich das nur zu gern geschehen ließ.
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