Wir berieten darüber in jener schrecklichen Nacht, doch bis heute haben wir keine Antwort darauf gefunden.
Wir wussten nicht, was Heinrich von Lübeck als Nächstes unternehmen würde. Eine Befürchtung allerdings hatten wir: dass er mit dem Castorius und der Kopie und den Münzen zum Bischof gehen würde. Die beiden Werke mochten genügen, dem Bischof die Existenz von der terra perioeci zu beweisen, und das Geld würde den Bischof in seiner Gier antreiben, uns unverzüglich mit einem Haufen Bewaffneter zu stellen.
Hätten wir dieses Risiko eingehen dürfen? Hätten wir den Traum vom Neuen Jerusalem in jener Nacht opfern sollen? Nicht einmal die Flucht wäre uns geblieben, denn mit all dem Gold und Silber wären wir zu langsam gewesen.
Wir mussten also sofort etwas unternehmen, noch in jener Nacht. Noch bevor Heinrich von Lübeck das Haus des Nechenja ben Isaak wieder verlassen hatte, mussten wir unsere Entscheidung getroffen haben.«
»Und Ihr habt Euch für den Tod entschieden«, flüsterte ich fassungslos. »Ihr opfertet tatsächlich einen Mönch, einen Mitbruder, einen Mann GOTTES.«
Ich schluckte. Nun war es an mir, ein Gebet zu sprechen. Ich gedachte des toten Heinrich von Lübeck, den ich im Leben nie kennen gelernt hatte.
»Wart Ihr es, Meister Philippe, der in jener Nacht den Befehl gab, den Mitbruder zu erstechen?«, fragte ich schließlich. Im Geheimen hoffte, ja flehte ich, dass wenigstens dies nicht so war; dass jemand anderes diese schreckliche Tat angeordnet hatte; dass Meister Philippe einen solchen Befehl niemals hätte geben können. Doch der Inquisitor starrte mich nur wortlos an und schwieg. Und da verstand ich alles. Ich erinnerte mich plötzlich der Tintenflecke, die ich an jenem allerersten Tag, da ich dem Inquisitor im Kloster vorgestellt worden war, auf seiner linken Hand gesehen hatte. Seiner Schreibhand.
»Ihr seid Linkshänder!«, flüsterte ich. »Tag für Tag habe ich Euch gesehen - und doch ist es mir nie aufgefallen.«
Trauer und Scham übermannten mich und ich weinte, wie ich in meinem Leben noch nie und niemals wieder geweint habe seither. »Ja«, gestand der Inquisitor schließlich. Seine Stimme war kalt, doch hörte ich, wie schwer es ihm fiel, ein Zittern zu unterdrücken. »Ja, ich selbst habe Heinrich von Lübeck mit einem Dolch niedergestreckt. Doch kaum hatte ich die grausige Tat ausgeführt, da hörte ich Schritte. Es war, wie ich nun weiß, der Vagant Pierre de Grande-Rue, der sich, trunken und wollüstig, der Kathedrale Notre-Dame näherte. Ich floh.
Konnte ich denn ahnen, dass jener unglückselige Mönch noch nicht tot war, nachdem ich ihn getroffen hatte? Er war zu Boden gesunken und hatte sich nicht mehr gerührt, doch er muss noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt haben; vielleicht durch die rüden Griffe des Vaganten, der ihn ausplündern wollte und dann seinerseits vor Jacquette und dem Domherrn entfloh.
So ist jedenfalls noch einmal der Geist in Heinrich von Lübeck gefahren und er hat jenen Namen geschrieben, den wir doch um jeden Preis aus dem Gedächtnis der Christenheit tilgen wollten: terra perioeci.
Er wusste genau: Hätte er meinen Namen geschrieben, hätte er geschrieben, dass ich der Mörder bin, niemand hätte dies je geglaubt. Ich bin der oberste Inquisitor von Paris! Vielmehr hätte man gedacht, dass Heinrich von Lübeck mich auf diese Weise aufgefordert hätte, ihn zu rächen.
So aber schrieb er den Namen jenes verbotenen Landes, wohl in der Hoffnung, dass jemand seine blutigen Worte lesen würde, der neugierig sei. So neugierig, dass er sich auf die Suche nach dem Land der Periöken begeben würde und darüber erführe, welche Pläne uns bewegten.
Und ich, der ich am nächsten Morgen gerufen wurde, wusste davon nichts. Welch ein Schrecken durchfuhr mich, da ich schließlich die Blutschrift las!
Und dann gab es dafür auch noch einen Zeugen: dich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich ein Mitbruder zum Ort der Tat begleiten würde. Doch der Prior, der vom Schatz der Templer so wenig weiß wie vom Land der Periöken und der nicht einmal ahnt, dass sich verschwiegene Männer regelmäßig in seinem Kloster zu nächtlichen Versammlungen treffen, dieser heilige Narr verfügte es so, weil du ein Landsmann des Toten warst und er sich davon irgendwie eine Hilfe zur Aufklärung des Rätsels erhoffte.
Wie hätte ich die Anweisung des ehrwürdigen Vaters ablehnen können? Das wäre verdächtig erschienen. Zudem glaubte ich in jenem Moment nicht, dass du mir gefährlich sein würdest. Und so hatte ich jemanden mitgenommen, der genau so war, wie Heinrich von Lübeck es sich im Todeskampf erhofft hatte: jemanden, dem Wissen über alles geht.
Und als du erst einmal die blutigen Worte gelesen hattest, da konnte ich dich nicht mehr aus meinen Diensten entlassen, denn ich befürchtete, dass du, ohne meine Kontrolle, zu unbefugten Ohren davon reden und unwissentlich irgendjemanden auf meine Spur führen würdest. Denn Spuren gab es ja genug.
Noch in der Nacht des Mordes war ich in die Bibliothek des Kollegiums de Sorbon geeilt und hatte jeden Hinweis auf das Land der Periöken im ›Liber floribus‹ getilgt — dafür nutzte ich den Namen des Heinrich von Lübeck. Ich jagte den Vaganten zu Tode. Ich opferte die elende Schönfrau und den wollüstigen Domherrn. Große Sünden beging ich, fürwahr. Eines Tages werde ich mich dafür vor einem Richter verantworten, der in mein Herz sieht. Doch fürchte ich mich nicht, denn mein Herz ist rein. Ich tat, was ich tun musste, um das Neue Jerusalem zu beschützen; um die Kirche zu beschützen; um die Christenheit zu beschützen; um das Reich GOTTES zu begründen!«
Meine Tränen waren längst versiegt. Ich fühlte mich unendlich müde und leer. »HERR, lass mich sterben!«, flehte ich leise. »Nimm mich zu DIR. DEIN Reich will ich sehen, doch nicht auf Erden, sondern im Himmel.«
»Doch wie ich mich auch mühte, alle Spuren zu verwischen«, fuhr der Inquisitor scheinbar ungerührt fort, »stets blieb doch etwas zurück, das auf mich verwies. Ja, fast schien mir, dass ich, je mehr Spuren ich verwischen wollte, nur noch mehr Spuren legte.
Auch dich ließ ich verfolgen. Von dem Augenblick an, da ich gewahrte, dass du unsere nächtlichen Zusammenkünfte belauschen wolltest. Ich erfuhr von den unzähligen Augen der Inquisition, dass du den Geldwechsler Pietro Datini am Grand Pont aufsuchtest. Wozu, das konnte ich mir denken.
Ich wusste, dass du dich mit Lea, der Tochter des Geldwechslers trafst. Sogar das Buch, das sie dir heimlich gab, studierte ich in deiner Zelle, als du fort warst. Und fort warst du ja oft genug. Wir sahen, wie Jacquette mit dir sprach. Ja, du warst es, der uns wieder auf ihre Spur gebracht hatte, nachdem sie den Sergeanten entflohen war. Eine Zeit lang wusste ich nicht, wo sie sich versteckt hielt, und war sehr beunruhigt darüber. Doch als die Schönfrau zu dir kam, konnte sie uns nicht mehr entkommen.
Und dann war da noch Klara Helmstede. Oh Ranulf, wie gerne hätte ich dich geschont! Deine Sünden, so groß sie auch waren, hätte ich dir nachgesehen. Du hättest gesucht und gesucht und doch nichts gefunden. Doch dann trafst du die Gattin des Reeders - jenes Mannes, der in unserem Auftrag zum Land der Periöken segeln soll! Oh, ich weiß, es war die Wollust, welche dich in ihre Arme trieb. Doch konnte ich sicher sein, dass es nur das Fleisch war, das dich zu ihr hinzog, und nicht doch auch der Geist? Sprechen Mann und Frau in der Umarmung nicht manchmal Dinge, die sie, sind sie Herren ihrer Sinne, niemals zu äußern wagen würden?
Als du Klara Helmstede trafst, Bruder Ranulf, da warst du im Herzen unserer Verschwörung angelangt. Du wusstest es vielleicht noch nicht, doch wäre es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis du alles aufgedeckt hättest. Also schlug ich zu - und ließ dich verhaften. Auch wenn es mich schmerzt, als hätte ich einen Sohn in den Kerker geworfen.«
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