Ein Neues Jerusalem am jenseitigen Ufer des Atlantiks, das stand vor meinem geistigen Auge: strahlend, machtvoll, rein! Und dereinst, nach vielen Jahren, würden die Glaubensstreiter von dort zurückkehren über den Ozean und unser sündiges Abendland mit Feuer und Schwert und dem Eifer ihrer Religion reinigen. Sie würden weiterfahren nach Jerusalem und die heiligen Stätten erobern, auf dass nie wieder ein Ungläubiger es wage, Hand auf sie zu legen!
Ja, dies alles wurde mir in einem einzigen Augenblick in die Seele gebrannt. Ich sprach mit Engelszungen und überzeugte meine Mitbrüder, nachdem wir uns so viele Jahre uneins waren, in einer einzigen Nacht von jenem Plan. Es war ein Wunder.«
Ich wusste nicht, ob ich die Vision des Inquisitors bestaunen oder fürchten sollte. Sie war hell und strahlend wie ein Feuer - doch verbrennt man sich nicht, kommt man den Flammen zu nahe? »Habt Ihr, …«, ich wagte jene nächste Frage kaum zu stellen, doch der Inquisitor hatte Recht: Ich wollte Wissen haben um jeden Preis. »Habt Ihr Heinrich von Lübeck dann getötet, damit das Geheimnis um die terra perioeci allein bei Euch liegt?«
Philippe de Touloubre schüttelte traurig den Kopf. »Oh nein, mein junger Mitbruder, im Gegenteil: Heinrich von Lübeck war doch SEIN Werkzeug, warum hätten wir da Hand an ihn legen wollen? Zunächst jedenfalls nicht.
Wir haben den Mitbruder aus dem fernen Norden zu einer unserer nächtlichen Zusammenkünfte gerufen - dort haben wir ihn eingeweiht. In alles, den Schatz und den Plan. Da fiel er auf die Knie, Tränen rannen über seine Wangen und er dankte GOTT für diese große Gnade, dass er bei einem so edlen Unternehmen seinen Beitrag leisten dürfe. So nahmen wir ihn auf in unsere Reihen. Als dreizehnten Mönch.
Heinrich von Lübeck war es, der Richard Helmstede dazu überredete, nach Paris zu segeln, mit der ›Kreuz der Trave‹. Denn da niemand von uns weiß, wo jenes geheimnisvolle Land genau liegt und wie es aussieht, dachten wir, es sei das beste, genau jenes Schiff zu nehmen, das erwiesenermaßen diese Reise bereits einmal überstanden hatte. Der Reeder kam denn auch nach Paris und mit ihm seine Gattin, womit wir nicht gerechnet hatten. Aber, wie du siehst: Auch dies war SEIN Wille, denn nun ist Klara Helmstede das Auge der Inquisition. Der Reeder weiß bis heute nicht, wohin die Reise gehen soll. Ich denke, dass er seine Vermutungen hat, doch ist er klug genug und schweigt. Er ahnt nicht, dass ich mit Heinrich von Lübeck in Verbindung stand und ihm Befehle gab. Denn stets schickte ich, wenn Anordnungen zu geben waren, einen unserer verschwiegenen Mitbrüder zu ihm.
Wir haben ihm viel Gold gegeben für die Fahrt — es ist die erste Ausgabe aus dem Schatz der Templer, die wir jemals getätigt haben. Wir lassen Kisten mit den Münzen an Bord bringen, dazu viele Vorräte. Im letzten Augenblick werden zwölf Mönche aus unserem Kreis die Kogge betreten. Sie werden die Gründer des Neuen Jerusalems sein, jenseits des Ozeans.
Richard Helmstede wird zurückkehren und fortan zwischen jenem fernen Land und unserer Christenheit reisen und Menschen und Vorräte transportieren - so wenig, dass es niemandem je auffallen wird. Langsam wird er sorgfältig ausgewählte christliche Siedler und Streiter über den Ozean bringen, ein, zwei Dutzend auf jeder Fahrt. Niemand wird sie vermissen.
Wir hätten den Kapitän schon längst ablegen lassen, doch die Seuche, die nun in Paris wütet, hat alles verzögert. Wir müssen abwarten, bis die Krankheit abgeklungen ist — was, wie ich glaube, schon bald der Fall sein wird. Es wird nur noch ein paar Tage dauern. Nur einmal hat Satan unsere Pläne bislang gestört — eine schreckliche Fügung! Heinrich von Lübeck war dazu ausersehen, einer jener zwölf Mönche zu sein, welche die Ehre haben, das Neue Jerusalem zu gründen. Er freute sich zunächst gar sehr darüber - doch dann befielen ihn Zweifel.
Um alle unsere Spuren zu verwischen, sandten wir verschwiegene Mitbrüder aus, welche, wie du inzwischen weißt, in den Bibliotheken der Christenheit jeden Hinweis auf die terra perioeci löschen sollen. Nur einige wenige zuverlässige Karten wollten wir behalten, für den Kapitän der Kogge. Ansonsten wollten wir alles tilgen, was auf das Land jenseits des Ozeans wies. Denn was ist gefährlicher als ein weiser Text, den ein Unbefugter liest?«
»Aber es ist ein Verbrechen und eine Sünde, so viele Bücher zu fälschen«, flüsterte ich.
Da lachte Meister Philippe und schüttelte den Kopf. »Warum? Wo steht geschrieben, dass es ein Verbrechen ist? Ist es nicht vielmehr so, dass die Inquisition nicht nur einzelne Seiten, sondern ganze Bücher verbrennt, weil sie häretisch und somit gefährlich für die Kirche sind? Diese Stellen über das Land der Periöken sind zwar keine Ketzerei, doch ebenso gefährlich. Also lassen wir seit einem Jahr nach Büchern suchen, die uns bedrohlich dünkten.«
»Du selbst hast mit eigener Hand Bücher gestohlen«, warf ich ihm vorwurfsvoll an den Kopf.
Er nickte. »Ja, das tat ich, in unserem Kloster, im Kollegium de Sorbon und auch noch andernorts. Manchmal bedauere ich dies, doch weiß ich, dass es notwenig war. Das Geheimnis um die terra perioeci rechtfertigt jeden Preis. Jeden.«
»Auch ein Menschenleben.«
»Auch dies.«
Meister Philippe schloss die Augen, seine Züge zeigten Trauer, ja Schmerz. »Heinrich von Lübeck«, fuhr er schließlich fort und senkte dabei die Stimme so weit, dass auch ich ihn nun kaum noch verstehen konnte, »begrüßte freudig unser Ziel und war voller Ehrgeiz. Doch als er erfuhr, dass wir die Bücher verändern mussten, da protestierte er.«
Der Inquisitor lächelte kurz. »Da glich er dir: Auch Heinrich von Lübeck hatte vom süßen Wein des Wissens gekostet und kam nun nicht mehr los davon. Er glaubte, dass es eine unentschuldbare Sünde sei, die Bücher zu nehmen oder Sätze aus ihnen zu tilgen. Immer heftiger wurde sein Protest, immer lauter erhob er seine Stimme. Er drohte, zum Bischof von Paris zu gehen. Er drohte uns sogar mit dem Heiligen Vater.
Wir flehten ihn an, doch zu bedenken, wie herrlich und offensichtlich GOTT gefällig unser Unternehmen ist. Wir beschworen ihn, niemandem etwas von unseren Plänen zu verraten, nun, da er ein Eingeweihter sei. Eindringlich machten wir ihm deutlich, in welche Verwirrung sich die Christenheit stürzen würde, wüsste sie um den Schatz der Templer und um die terra perioeci.
Vergebens. Nicht nur, dass Heinrich von Lübeck von all unseren guten Worten nichts hören wollte. Nein, wir kamen ihm auf die Schliche, dass er seinerseits heimlich damit begann, Werke der Geografie an sich zu nehmen. Dazu stahl er sogar Geld aus den Schatzkisten der Templer! Er wollte all die Bücher kaufen, kopieren, notfalls stehlen, die wir doch verschwinden lassen mussten. Schließlich ging er zum Juden Nechenja ben Isaak …«
»Wusstet Ihr, dass der Geldwechsler eine große Bibliothek besitzt?«, fragte ich, da der Inquisitor nicht weitersprach. »Ja«, gestand er mir. »Wir glaubten, dass wir viel Zeit hätten, sie an uns zu bringen. Kein Christ, so dachten wir, würde bei einem Juden Bücher lesen wollen und wie sollte uns ein Geldwechsler schon gefährlich werden können?
Doch an jenem Abend entdeckte ich, dass unter den Büchern, die wir bereits an uns gebracht hatten, das Werk des Castorius fehlte. Auch waren wieder Münzen verschwunden. Und dann berichtete uns ein Spitzel, dass ein Mönch das Haus des Nechenja ben Isaak betreten habe. Ein Dominikaner.«
Philippe de Touloubre schloss die Augen und betete ein PATER noster. Ich schwieg.
»Heute weiß ich, dass Heinrich von Lübeck beim Juden den ›Liber floribus‹ des ketzerischen Chorherren Lambert von Saint-Omer kopieren wollte. Doch was genau er in dieser Nacht vorhatte und wozu er das Werk des Castorius und die gestohlenen Münzen bei sich trug, war uns allen ein Rätsel.
Читать дальше