War Heinrich von Lübeck in der Nacht seines Todes mit jenem Werk auf dem Weg zu Richard Helmstede gewesen? Das Haus, das der Reeder gemietet hatte, lag einen langen Fußmarsch von Notre-Dame entfernt; die Kogge hingegen war nur einige Dutzend Schritte weiter festgemacht. Wurde der Mönch ermordet, um jene Karte nicht in die Hände des Reeders gelangen zu lassen? Doch wer sollte dies tun? Und weshalb? Vollendeten die Mitbrüder nun, was Heinrich von Lübeck begonnen hatte? Doch wozu? Weshalb hätte Meister Philippe mir gegenüber von alldem geschwiegen?
Weil dieses Werk oder die Fahrt der Kogge irgendetwas mit jenen Fälschungen zu tun hatte, auf deren Spur ich in der Bibliothek des Kollegium de Sorbon gekommen war — jenen stillen, sorgfältigen, unheimlichen Tilgungen hier und in vielleicht allen Bibliotheken der Christenheit?
War es vielleicht so, dass seit vielen Monaten Bücher allerorten geändert wurden — seit Heinrich von Lübeck sein Wissen um die terra perioeci den Mitbrüdern offenbart hatte? War es möglich, dass Paris das Zentrum jener weit verzweigten Verschwörung war? Falls dem so war: War es denkbar, dass die Mönche ihr Tun sogar dem Heiligen Vater in Avignon verschwiegen hatten? Wurde selbst der Papst von ihnen getäuscht?
Diese und noch viele andere Fragen vermochte ich nicht zu lösen, obgleich ich doch Stunde um Stunde in der Zelle saß und grübelte. Warum etwa war Heinrich von Lübeck kurz vor seiner Ermordung zum jüdischen Geldwechsler Nechenja ben Isaak gegangen? Warum begehrte er, ausgerechnet dort das kaum bekannte Werk »Liber floribus« des Lambert von Saint-Omer zu sehen? Ja, wenn ich Leas Worten Glauben schenken durfte, warum wollte er es gar in seinen Besitz bringen, zumindest aber kopieren? Auch dieses Buch nannte das Land der Periöken - hatte Heinrich von Lübecks Wunsch damit zu tun? Im Mittelpunkt all meiner Fragen stand jedoch Philippe de Touloubre: Welche Rolle spielte der Inquisitor in dem finsteren Spiel? Was wusste er von Heinrich von Lübeck, von terra perioeci , vom rätselhaften Auftrag des Lübecker Reeders? Was hatten die nächtlichen Versammlungen im Kloster, an denen Meister Philippe teilnahm, mit alldem zu schaffen? War Philippe de Touloubre vielleicht noch immer auf der Spur des Mörders? Wollte er die Schleier vor allen Geheimnissen zerreißen? Oder war er doch tief verstrickt in jene Geheimnisse — und suchte nun nach Wegen, sie auch weiterhin zu schützen? Tagelang zermarterte ich mir den Geist und war mir selbst mein eigener Folterknecht. Qualen litt ich, ohne dass dabei ein Tropfen Blut geflossen wäre. Ich wäre wohl dem Wahnsinn verfallen, hätte ich mich noch länger an diesen Rätseln versucht. Doch meine Rettung kam - ausgerechnet in Gestalt des Folterknechtes, der eines Tages im flackernden, rötlichen Schein einer Fackel die Pforte öffnete.
»Mitkommen«, befahl er mir. »Wohin?«, wagte ich zu fragen.
Da glomm ein tückisches Leuchten in seinen Augen auf. »Zur Streckbank«, antwortete er.
*
»Singt ein Ave Maria, Bruder Ranulf«, flüsterte mir der Folterknecht höhnisch zu, als ich mich mühsam aufrichtete und versuchte, mir das faulige Stroh aus der Kutte zu streichen. »Heute ist der Tag der Himmelfahrt der Mutter GOTTES.«
»Mariae Himmelfahrt?«, fragte ich entsetzt. So lange hatte ich schon im Kerker geschmachtet!
Dies war der Tag, an dem die »Kreuz der Trave« Paris verlassen sollte. Sollte ich GOTT lobpreisen, da Klara an diesem Tag jenem Unglücksort entkommen würde? Oder sollte mich Trauer übermannen, da ich sie nun nie wiedersehen würde?
Oh, wie grausam wurde mit mir gespielt! Kaum war ich aus meiner Zelle getaumelt, unbeholfen wie ein Kind, denn meine Gelenke waren steif und meine Glieder schwach, da erblickte ich mit in der ungewohnten Helligkeit blinzelnden Augen am gegenüberliegenden Ende des Ganges eine Gefangene, die in eine andere Zelle geleitet wurde.
Für einen Moment glaubte, ja hoffte ich geradezu, dass Satan meinen Sinnen einen bösen Streich gespielt hatte, doch in meinem tiefsten Innern wusste ich sofort, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Es war Klara Helmstede, die dort in eine Zelle geworfen wurde. Die Frau des Reeders hatte mich nicht gesehen. Ich stand wie betäubt, bis mich der Folterknecht mit einem groben Stoß vorantrieb. Klara im Kerker der Inquisition! Oh HERR, wie lässt DU andere für meine Sünden büßen! Jacquette, die mir vertraut hatte, hatte mit einem tödlichen Messerstich für ihre Rolle in diesem finsteren Drama bezahlt - und ich hatte sie nicht schützen können. Klara wartete nun in einem dunklen Verlies auf das Urteil der Inquisition - und ich war es, der sie auf jenen schrecklichen Weg gestoßen hatte. Dann erkannte ich die heimtückische Absicht hinter jenem kurzen Blick, der mir auf Klara Helmstede vergönnt gewesen war: Der Folterknecht hatte mir nicht zufällig mit Hohnworten klar gemacht, dass jener Tag Mariae Himmelfahrt war. Jemand hatte es ihm aufgetragen, jemand, der genau wusste, dass die »Kreuz der Trave« zu diesem Datum abfahren sollte. Dieser jemand hatte es so eingerichtet, dass ich Klara Helmstede erblicken, jedoch nicht mit ihr sprechen konnte. Eine neue Folter, ganz ohne Blutvergießen.
Zutiefst betrübt ließ ich mich vorwärtsstoßen. Was vermochte ich noch zu tun? In jenem Augenblick ahnte ich, dass ich Klara Helmstede, die mir das Paradies auf Erden geöffnet hatte, in diesem Leben niemals wiedersehen würde.
Ich wehrte mich nicht, als man mich in der Folterkammer auf die Streckbank warf und meine Arme und Beine in Fesseln legte. Noch waren die Stricke recht locker, ich konnte meine Glieder um eine Winzigkeit bewegen und ohne Anspannung atmen. Aus den Augenwinkeln erblickte ich den Bader Nicolas Garmel, der an einer Säule lehnte. Er sah müde und furchtsam aus und wirkte so, als würde er sich am liebsten in den kalten Stein der Säule drücken, um darin zu verschwinden.
Ich wollte ihn nicht gefährden, indem ich dem Folterknecht offenbarte, wie gut ich den Bader kannte. Also starrte ich nur kurz zu ihm hinüber, doch gab ich kein Zeichen der Begrüßung, noch irgendeinen Laut von mir. Auch er blieb stumm und wandte rasch sein Gesicht ab.
Da betrat der Mann die Folterkammer, dessen Anblick ich fürchtete und doch auch herbeigesehnt hatte, mein Verhängnis und meine Erlösung in einer Person: Meister Philippe de Touloubre, der oberste Inquisitor von Paris.
*
Philippe de Touloubre bedachte mich mit einem gütigen und zugleich mitleidigen Blick. »Bruder Ranulf, wie tut es meinem Herzen weh, dich so vor mir zu sehen«, hub er an.
Ich erwiderte nichts, sah jedoch, dass er keinen zweiten Mönch mitgebracht hatte. Niemand würde niederschreiben, was wir uns zu sagen hatten.
»Du hättest ein guter Inquisitor werden können«, fuhr Meister Philippe fort, »denn klug bist du und belesen. Neugierde treibt dich. Doch du bist zu schwach für das heilige Amt. Schwach vor allem im Fleisch. So bist du eine Schande für deinen Orden - und eine Gefahr für die Inquisition.«
»Klara Helmstede ist unschuldig!«, rief ich verzweifelt, denn ich fürchtete, dass er mir vor allem diese Sünde der Wollust vorhalten wollte. »Die Schuld liegt allein bei mir. Ich habe sie verführt.« Der Inquisitor lachte. »Als ob ich dir das glauben würde! Tunc Iesus ductus est in desertum ab Spiritu ut temptaretur a diabolo.« Dann hob er beschwichtigend die Hand.
»Sei unbesorgt um das Weib, das dich vom Pfad der Tugend abbrachte«, fuhr er dann fort und ich meinte, versteckten Spott in seiner Stimme zu vernehmen, obwohl seine Miene noch immer freundlich war und gütig.
»Klara Helmstede habe ich nur in den Kerker führen lassen, um ihren Willen zu brechen — was auch schon geschehen ist. Kein Folterknecht muss Hand an sie legen. Ihr sollte hier nur eindringlich gezeigt werden, dass die Inquisition um ihren Ehebruch weiß und dass wir gewillt sein könnten, ihr Vergehen fürchterlich zu strafen. Wir werden sie jedoch bald wieder freilassen. Mehr noch: Wir werden ihrem Gatten mit keinem Wort die schändliche Treulosigkeit seiner Frau verraten.
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