»Ein Kranker, ein weiterer Kranker!«, hörte ich wie aus großer Ferne jemanden schreien.
Doch dann, viel näher an meinem Ohr, vernahm ich die Stimme des dickeren der beiden Sergeanten, der sich zu mir niedergebeugt hatte und mir einen weiteren Stoß versetzte.
»Du entwischt uns nicht, Bruder Ketzer!«, rief er fluchend und trat mir gegen die Rippen, dass ich mich im Dreck wälzte und um Atem rang.
»Was wollt ihr von mir?«, keuchte ich.
»Wir befolgen nur Befehle«, mischte sich da der andere Sergeant ein und gebot seinem Kameraden Einhalt, bevor der mich wieder treten konnte wie einen räudigen Hund. »Wir bringen dich zum Inquisitor«, sagte er.
»Du weißt schon, wohin«, fiel ihm der Dickere ins Wort und feixte. »Nach Saint-Martin-des-Champs.«
16
DIE VISION DES INQUISITORS
Die Sergeanten schleppten mich in den Kerker der Inquisition. Ich wehrte mich nicht, sondern ließ mich abführen, als hätte ich keinen Willen mehr. Da jedermann vor dem sterbenden Bettler geflohen war, zerrten mich die beiden Bewaffneten durch die verlassene Rue Darnetal. Die Menschen, die wir auf unserem weiteren Weg trafen, achteten kaum auf uns. Zu groß war die Furcht vor der Seuche, als dass sich jemand um zwei Sergeanten und einen Mönch bekümmert hätte. Die erste Folter, welche ich in Saint-Martin-des-Champs zu spüren bekam, war die Qual der Ungewissheit. Denn mit einem heftigen Stoß landete ich in einer der Zellen in jenem unterirdischen Verlies, das ich erst kurz zuvor als Protokollant des Inquisitors betreten hatte.
Dort blieb ich. Stundenlang. Tagelang.
Ich lag auf fauligem Stroh. Wanzen saugten mir das Blut aus den Adern. Ab und an öffnete eine Hand die Klappe in der winzigen Kerkerpforte und schob mir etwas hartes Brot und einen Krug schalen Wassers hin. Beides schlang ich sofort in mich hinein, denn beim ersten Mal, da ich zu erschöpft gewesen und zuvor eingeschlafen war, stellte ich nach dem Erwachen fest, dass Ratten, groß wie kleine Katzen, meine erbärmliche Mahlzeit gefressen hatten. Manchmal fiel der Schimmer einer Kerze oder Fackel durch den Spalt unter der Kerkertür hinein in meine Zelle, die meiste Zeit jedoch blieb es finster wie in einem Grab. Auch vernahm ich nichts: keine Stimme, keine Schritte, nicht das geringste Geräusch. Ich war allein mit meinen Gedanken.
Meine Sorgen galten Lea und Klara. Ob der jungen Jüdin die Flucht geglückt war? War nicht auch die Gattin des Reeders in Gefahr? Denn offensichtlich hatten uns die Sergeanten ja beim Haus des Wollhändlers aufgelauert, also wusste die Inquisition von unserer sündigen Verstrickung dort. Doch was konnte ich noch tun? Nichts, rein gar nichts.
Ich konnte nicht nach Lea suchen. Ich konnte Klara nicht warnen. Ich wusste nicht einmal, ob die beiden noch lebten. Hilflos schlug ich mir die Fäuste an den feuchten, schimmeligen Kerkermauern wund. War es nicht allein meine Schuld, dass diese beiden Frauen nun in höchster Gefahr schwebten? War ich nicht Quell und Ursprung eines jeden Unglücks?
Ich wollte beten, doch fand ich keine Worte, in die ich meine Reue, meine Scham, mein Flehen, meine Hoffnung kleiden konnte. Mutlos sank ich zu Boden und weinte wie ein kleiner Junge. Wie viele Stunden ich dort würdelos im Schmutz lag, vermag ich nicht zu sagen. Irgendwann jedoch durchfuhr mich ein Gedanke: Wie würde es aussehen, wenn genau in diesem Augenblick der Inquisitor die Kerkerpforte öffnete? Sollte man mich so finden, heulend wie ein Waschweib? Wehklagend wie eine Bäuerin? Ich war immer noch Dominikaner. Ich war ein Mann GOTTES. Es war, so glaubte ich, mein letzter Kampf. Also wollte ich ihn kämpfen bis zur Neige.
So ermahnte ich mich, tapfer und besonnen zu sein. Mir fielen die Worte des Baders Nicolas Garmel ein, dass jedermann unter der Folter zusammenbrechen werde. Wohlan, so wollte ich mich wappnen. Auf keinen Fall wollte ich schon aufgeben, noch bevor die Folter überhaupt begonnen hatte. Die beiden Knechte mit ihrer Streckbank und ihren glühenden Eisen sollten sehen, wie ein Mönch in diese Qualen ging.
So setzte ich mich denn nieder, bequem, so weit es eben ging. Dann dachte ich nach, um mir darüber klar zu werden, warum ich überhaupt in diese Hölle auf Erden geraten war, und auch, um alle Dämonen aus meiner Seele zu bannen.
Mein Unglück hatte begonnen, als ich zu dem toten Mönch geführt worden war. Genauer gesagt, es hatte mit der letzten Botschaft des sterbenden Heinrich von Lübeck begonnen: mit den Worten terra perioeci. Das Werk des Castorius aus Ravenna, selbst vielen Gelehrten unbekannt, hatte jener unglückliche Dominikaner bei sich getragen. Dieses Buch hatte jenes geheimnisvolle Land verzeichnet. Und dieses Buch war von dem Vaganten Pierre de Grande-Rue, der zufällig des Weges kam, dem Sterbenden oder schon Toten gestohlen worden. Dann gab es die Verbindung zu Richard Helmstede: Heinrich von Lübeck war Beichtvater von dessen Bruder gewesen. Dieser Bruder wiederum war mit seiner Kogge »Kreuz der Trave« auf eine rätselhafte Irrfahrt geraten, die schließlich den Kapitän und all seinen Männern das Leben gekostet hatte.
Die Kogge. Nun, in der Dunkelheit meiner Zelle und viel zu spät, um noch irgendetwas tun zu können, erinnerte ich mich wieder der eher beiläufigen Worte meiner Geliebten. Klara Helmstede hatte von dem schauderhaft anzusehenden Fell gesprochen, das sie an Bord des Schiffes gefunden hatte, dazu von einem seltsamen Korn. Alles war längst verbrannt worden.
Und doch: War dies nicht ein handfester Beweis dafür, dass die Kogge in einem fernen Land angelegt hatte? Einem Land, in dem schreckliche Wesen lebten und seltsame Pflanzen gediehen? Heinrich von Lübeck hatte dem daniederliegenden Kapitän die Beichte abgenommen. Was hätte ihn besser davon überzeugen können, dass er nicht den Fieberfantasien eines Sterbenden lauschte, sondern einer wahren Geschichte, wenn nicht das Fell und das Korn an Bord der »Kreuz der Trave«?
Heinrich von Lübeck wiederum, mir schauderte, musste das Geheimnis der Beichte gebrochen haben, musste jene Vertrautheit, die doch so groß sein sollte wie die zwischen Vater und Sohn, verraten haben. Was hatte ihn dazu bewogen?
Irgendwie musste er - oder war es der sterbende Kapitän? - zu dem Schluss gekommen sein, dass jenes Land, das die Kogge erreichte, das Land der Periöken sei. Vielleicht erschien das dem Mönch gewichtig genug, um sich gelehrten Mitbrüdern anzuvertrauen. Und wo lebten die gelehrtesten Dominikaner des Abendlandes? In Paris. War Heinrich von Lübeck nach Paris gereist, um hier seinen Mitbrüdern von der terra perioeci zu berichten? Wenn dem so war, dann musste dies zweifellos auch Philippe de Touloubre zu Ohren gekommen sein. Doch hatte dieser, als er die Leiche des Mönches erblickte, mit keinem Wort, mit keiner Geste angezeigt, dass er von jenem Land bereits zuvor gehört hatte. Hatte mich der Inquisitor getäuscht? Oder hatte ich etwas übersehen?
Als Heinrich von Lübeck so ruchlos niedergestreckt wurde, lag die »Kreuz der Trave« jedenfalls schon längere Zeit an dem Kai am Ufer der Seine. Es war außerordentlich, dass eine Kogge aus Lübeck bis nach Paris segelte. Noch ungewöhnlicher war, dass ihr Kapitän offenbar nicht einmal ahnte, warum er dorthin gefahren war. Heinrich von Lübeck musste Richard Helmstede irgendwie überzeugt — oder ihn dazu gezwungen — haben, Paris anzusteuern, obwohl nicht einmal er wusste, wozu. Wusste ich mehr als der Kapitän?
Es war nun nicht mehr schwer zu erraten, dass die »Kreuz der Trave« wohl jenes Land der Periöken ansteuern sollte. Die Karte des Castorius, endlich geborgen aus dem Versteck des Vaganten, die ein namenloser Mönch dem Reeder überreicht hatte: Was konnte sie anderes sein als die Karte, nach der Richard Helmstede den Kurs seines Schiffes richten sollte?
Читать дальше