Noch einmal studierte ich den Absatz, dann noch einmal - ich wollte meinen Augen nicht trauen. Das magische Wort stand auf jenen Seiten, auf denen Xenophon die Herkunft der griechischen Soldaten beschrieb, die gen Persien gezogen waren:
»Da waren aber auch Männer unter ihnen aus dem Land der Periöken, welche seit alter Zeit die Bundesgenossen der Spartaner sind. Doch während sich die Spartaner auf dem Schlachtfelde auszeichnen, sind die Periöken vor allem für ihre Seefahrer berühmt. Ihr Hauptort ist Gytheion, ein wohlbefestigter Hafen. Als sie vom Kriegszug vernahmen, kamen viele Periöken auf schnellen Schiffen von dort übers Meer. Denn die Periöken sind schon vor langer Zeit über den Ozean gefahren und haben an der jenseitigen Küste eine Kolonie errichtet, die ›Land der Periöken‹ genannt wird. Und selbst von dort kamen sie für diesen Krieg, obwohl sie mehrere Wochen fahren mussten, bis sie in Griechenland angelangt waren.«
Lange stand ich am Lesepult und starrte betäubt ins Nichts. Was mochte dies bedeuten? Wo also lag jenes Land der Periöken? Viel weiter war ich mit meiner Suche nicht gekommen. Und doch: Es lag jenseits eines Ozeans, viele Tagesreisen entfernt von Griechenland. Welches Meer mochte dies sein? Meinte Xenophon die Griechenland gegenüberliegende Seite des Mittelmeeres, also vielleicht Spanien oder das Land der Mauren? Oder dachte er an jene Ozeane, welche das Abendland von Babylon, Indien oder gar vom legendären Cathay trennen, wenn es dieses Land tatsächlich gibt? Oder musste ich das Land nicht vielmehr in jenem Atlantischen Ozean vermuten, in dem auch Britannien liegt?
Ich dachte an die Karte des Castorius, auf die ich kaum mehr als einen flüchtigen Blick geworfen hatte. Ich dachte daran, dass die unbekannten Mönche einem Reeder aus Lübeck, der die Meere des Nordens befuhr, ihre Befehle gegeben hatten.
Wäre das Meer Richtung Indien gemeint gewesen, hätten sich die Dominikaner dann nicht eher an einen der Kaufleute aus Venedig oder Genua gewandt, deren Galeeren ja schon beinahe jene Weltgegend befuhren?
Es war wahrscheinlicher, dass das Land der Periöken im Atlantik lag, nördlich oder gar jenseits von Britannien. Sonst hätte ein Mann wie Richard Helmstede, dessen Koggen doch jedes Jahr Britannien anliefen, sicherlich schon längst davon gehört — und ebenso sein Steuermann Gernot.
Ich erbat mir von Magister Froissard, in dessen Gunst ich inzwischen sehr gestiegen war, ein Blatt Pergament, Feder und Tinte. Er war höflich genug, mir alles zu bringen, ohne mich zu fragen, wozu ich es benötigte. Dann kopierte ich rasch jene Sätze des Xenophon. Nachdem ich dies getan, die »Anabasis« zurückgegeben und dem Bibliothekar meinen Dank ausgesprochen hatte, schleppte ich mich müde ins Freie, hinaus auf die Place Maubert.
Mein Rücken und meine Glieder schmerzten, in meinen Augen brannte Feuer, meine Kehle war trocken, doch ich beachtete diese Beschwerden kaum. Die Mühsal der Arbeit schließlich ist GOTTES Strafe für den Sündenfall von Adam und Eva. Doch süß ist die Arbeit, wenn sie Früchte trägt. Zum ersten Mal seit vielen Tagen glaubte ich, dass ich wenigstens eine Frucht des Wissens gekostet, dass ich wenigstens um eine Winzigkeit der Lösung des Rätsels näher gekommen war.
*
So beseelt war ich von diesem kleinen Triumph, dass es einige Momente dauerte, bis ich gewahrte, dass die Leute auf dem Platz noch sehr viel lauter durcheinanderschrieen als gewöhnlich. Ich war schon halb über die Place Maubert geeilt und hatte das steinerne Kreuz Croix Hemon passiert, als ich verstand, was die Menschen so erregte.
»Die Seuche ist da!«, kreischte eine junge, gut gekleidete Bürgersfrau und achtete dabei nicht darauf, wie würdelos sie sich aufführte. »In La Villette fallen Männer und Frauen wie Getreide vor dem Schnitter«, rief ein Bauer. »Die Toten liegen in den Straßen, dass kein Durchkommen mehr ist.«
»Und im Temple hauchen die Gefangenen ihr elendes Leben aus. Man sagt, dass nur noch Tote in dem Kerker liegen«, fiel ein Marktweib ein.
So ging es in einem fort. Ein jeder schrie so laut wie er konnte und wusste immer noch schauerlichere Geschichten zu erzählen von Krankheit und Tod. Alle diese grauenhaften Dinge sollten sich jenseits der Stadtmauern zugetragen haben, mal im Westen, mal im Osten, dann wieder im Süden oder im Norden. Gesehen hatte es niemand, gehört hatte davon jeder. So wurden die Stimmen immer lauter, als wäre ein heftiger Streit entbrannt - obwohl doch keiner eine andere Meinung zu äußern wagte als die, dass der Tod nun vor den Toren reiche Ernte hielte.
Statt demütig und ehrlich um Reue bemüht in die nächste Kirche zu streben und vor GOTT ihre Sünden zu bekennen, solange sie dies noch vermochten, brüllten und gestikulierten die Menschen wie tollwütige Tiere. Fast vermeinte ich, eine grimmige Befriedigung in ihren Stimmen zu hören, eine wahnsinnige Freude daran, dass die seit Wochen gefürchtete Seuche nun endlich in der Stadt angekommen war.
Ich fürchtete mich mehr vor der ziellosen Wut der Menge als vor der Krankheit, denn kein Leiden, das uns der HERR schickt, kann so grausam und unberechenbar sein wie die einmal entflammte Leidenschaft der Menschen. Also schlug ich meine Kapuze hoch und wollte weitereilen, da spürte ich, wie mich jemand am Ärmel festhielt. Es war Lea bas Nechenja, die Tochter des Geldwechslers. Ich hätte sie auch diesmal nicht erkannt, denn sie trug ein schlichtes Kleid ohne gelbe Judenmarke und ein Schleier umhüllte ihr Haupt und verbarg ihr Gesicht. Ihre Stimme jedoch überzeugte mich, dass sie es tatsächlich war, die vor mir stand. »Helft mir, Bruder Ranulf!«, flüsterte sie.
Ihr Griff war so fest, ihre Stimme klang so fordernd und doch zugleich so erbarmungswürdig, dass ich alle meine Bedenken sofort fallen ließ und mich an ihrer Seite durch die wütende Menge schob. Wir strebten zum Ufer der Seine, wo das Volk in weniger großer Zahl zusammengelaufen war und wir deshalb meinten, dass uns dort niemand zufällig belauschen könnte.
»Mein Vater schmachtet im Kerker der Inquisition«, stieß die junge Jüdin hier endlich hervor. »Und unser Haus ist von Euch Mönchen geplündert worden!«
Ich schlug das Kreuz und schloss für einen Moment die Augen. »HERR«, flüsterte ich, »wohin führt nur unser Weg?« Dann ermannte ich mich, ruhig und besonnen zu sein, da dies umso notwendiger war, weil offensichtlich niemand sonst mehr bei Sinnen zu sein schien.
»Was ist geschehen?«, fragte ich.
Müdigkeit und Angst zeichneten die schönen Züge der jungen Frau. »Euer Meister selbst führte an diesem Morgen wohl ein Dutzend Sergeanten und noch einmal so viele Mönche zu unserem Haus. Es war wie ein Überfall von Landsknechten.«
»Philippe de Touloubre?«, wiederholte ich ungläubig. »Der Inquisitor höchstselbst. Die Sergeanten, die ihn begleiteten, machten sich nicht einmal die Mühe, an unsere Tür zu klopfen und Einlass zu begehren. Sie schlugen uns stattdessen die Pforte ein und stürmten das Haus, meinen Vater zerrten sie weg!«
»Was wollten sie von ihm? Was warfen sie ihm vor?« Lea schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Doch ich habe auch nicht alles mit anhören können - und gesehen habe ich noch weniger, denn ich befand mich zu jener frühen Stunde, da uns der Inquisitor heimsuchte, zufällig in der Dachbodenkammer. Als ich gewahrte, was geschah, da verbarg ich mich unter einem Haufen alter Wolltücher, die wir auf dem Speicher aufbewahrten. Ich hörte wohl, wie mein Vater laut um Gnade flehte und ihn Sergeanten mit groben Beleidigungen bedachten, bevor sie ihn abführten. Doch was man ihm vorwarf, das weiß ich nicht. Als mein Vater fortgeschafft worden war, jagten die Sergeanten die Diener aus dem Haus. Diese flohen furchtsam und waren froh, dass man sie nicht auch in den Kerker zerrte.
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