»Das Licht ist jetzt gut so, danke, Madonna«, brachte er stammelnd zwischen den geschwollenen Lippen hervor. »Warum seid Ihr gekommen?«
»Freut Ihr Euch denn nicht, mich zu sehen?«, fragte sie ihn.
Gerardo schüttelte den Kopf. »So ist es nicht. Selbstverständlich freue ich mich. Aber jetzt weiß man, dass Ihr mich kennt, und man könnte Euch befragen, um von Euch etwas über mich zu erfahren. Ich würde es nicht ertragen, wenn man Euch meinetwegen ein Leid zufügen würde.«
Instinktiv streckte Fiamma eine Hand aus, um ihm über das Gesicht zu streicheln, dann zog sie sie sofort wieder zurück. In dieser winzigen Zelle waren sie zu einer unschicklichen Nähe gezwungen, und trotz der Schmerzen in seinen Knochen und Muskeln regten sich in Gerardo Gefühle, die ihn in Verlegenheit brachten.
Die junge Frau hatte auf den Boden einen kleinen Korb gestellt, aus dem sie ein Leinentuch und einen Krug Wasser holte. Sie tauchte einen Zipfel ins Wasser und begann, Gerardos Gesicht vorsichtig von Schmutz und verkrustetem Blut zu säubern.
»Sie werden mir nichts tun, nur keine Sorge«, sagte sie. »Der Capitano del Popolo hat bei Remigio hohe Schulden und war sehr erfreut, mir diesen Besuch bei Euch im Austausch für einen Brief zu gestatten, der ihm den Erlass dieser Schuld bestätigt.«
»Das durftet Ihr nicht tun!«, rief Gerardo. »Euer Vater …«
»Remigio ist nicht mein Vater«, unterbrach ihn Fiamma heftig. »Das habe ich Euch bereits gesagt. Und außerdem ist er verschwunden, wie Ihr wisst. Wenn er wiederkehrt, falls er je wiederkehrt, kann er meine Entscheidung nur noch zur Kenntnis nehmen. Ich habe seine Unterschrift so gut gefälscht, dass nicht einmal er es bemerken würde.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich hätte alles getan, um Euch besuchen zu können.«
Gerardo spürte, wie sein Herz bei diesen Worten schneller schlug, doch er blieb stumm. Überrascht bemerkte er, dass die Vorstellung, sein Gelübde zu brechen, ihm auf einmal gar nicht mehr so schrecklich erschien. Vielleicht lag es daran, dass ihm der Tod drohte. Fiamma hatte die Säuberung seines Gesichts beendet, zog ihre Hand zurück und legte das schmutzige Tuch auf den Boden. Nur bei ihrer heftigen Bemerkung über Remigio hatte sie das Taschentuch vom Mund genommen, sonst hielt sie es sich weiter vors Gesicht.
»Ich habe Euch etwas zu essen und frisches Wasser zum Trinken mitgebracht«, sagte sie und stellte den Korb vor ihn hin. »Bitte, bedient Euch.«
Gerardo holte eine abgedeckte Schüssel hervor, in der sich eine noch lauwarme Suppe befand. Er stürzte sie gierig hinunter und genoss ihren reichhaltigen, würzigen Geschmack. Dann nahm er das große Stück Fleisch am Boden der Schüssel in die Hand und verschlang auch dieses zusammen mit einer Scheibe Brot. Fiamma beobachtete ihn hinter ihrem Tuch beim Essen mit einem Ausdruck, der ihn an seine Mutter erinnerte. Schließlich trank Gerardo die Hälfte des Wassers im Krug und sparte sich den Rest für später auf.
»Danke«, sagte er. »Das tat gut.«
»Kann ich noch etwas für Euch tun?«
Gerardo wollte schon ablehnen, doch jetzt, wo er sich gestärkt hatte, fühlte er sich wacher und kräftiger, und zum ersten Mal kam ihm in den Sinn, in welcher Lage er Hugues de Narbonne zurückgelassen hatte.
»Eines gäbe es da schon, Madonna.«
»Sprecht nur.«
Gerardo erklärte ihr in wenigen Worten, ohne zu sehr auf Einzelheiten einzugehen, dass Hugues in der vergangenen Nacht am Kopf verletzt worden war, Mondino ihn operiert hatte und sie ihn ans Bett fesseln und knebeln mussten, um ihn ruhigzustellen.
»Dann haben wir ihn genau so zurückgelassen, aus Gründen, die ich Euch nicht erklären werde«, sagte er. »Ich gedachte, ihn am Nachmittag zu befreien, nachdem ich mit Eurem Vater gesprochen hatte. Dann wurde ich verhaftet und hatte ihn bis zu diesem Moment vergessen.«
»Wünscht Ihr, dass ich nach ihm sehe?«
Gerardo zögerte. »Wenn keiner zu ihm geht, könnte er sterben. Ich habe mich dort mit meinem Magister verabredet, aber allein kommt er nicht herein. Da ich überzeugt war, ich würde vor ihm dort eintreffen, habe ich ihm nicht gesagt, wo der Schlüssel versteckt ist.«
»Sorgt Euch nicht, ich werde dort auf ihn warten.«
Gerardo erinnerte sich an die Blicke, die Hugues in Remigios Haus auf die junge Frau geworfen hatte, und plötzlich erschien ihm die Vorstellung, sie in die Höhle des Löwen zu schicken, keine so gute Idee, selbst wenn der Franzose jetzt schwach und verletzt war.
»Aber denkt daran«, ermahnte er sie mit ernstem Blick, »wartet, bis Mondino eintrifft, ehe Ihr ihn losbindet. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Hugues de Narbonne nicht der ist, der zu sein er vorgibt.«
»Nur keine Angst, ich werde aufpassen«, versicherte Fiamma ihm. »Ich werde mich von den beiden Dienern meines Vaters begleiten lassen. In diesen Tagen bleibt die Bank geschlossen.«
Gerardo erklärte ihr daraufhin, wo das Haus lag und wo er den Schlüssel versteckt hatte. »Ich danke Euch von Herzen für Eure Freundlichkeit, Madonna«, sagte er und bemühte sich zu lächeln. »Gott weiß, wie ich diese im Moment brauchen kann.«
Fiamma nickte, doch sie blieb ernst und schien an etwas anderes zu denken. Sie schwieg einen Moment, als müsste sie einen inneren Kampf mit sich selbst ausfechten. »Nun, ich bin nicht nur deshalb gekommen«, sagte sie dann. »Ich muss mit Euch reden.«
»Worüber?«
»Über mich.«
Überrascht brachte Gerardo nur heraus: »Ich höre.«
Fiamma schwieg lange, dann holte sie tief Luft. »Das hier hat mir kein Arzt zugefügt, der einen Katarakt entfernen wollte«, sagte sie, nahm das Taschentuch vom Mund und zeigte ihm ihre linke Gesichtshälfte. Im flackernden Schein der Öllampe schien die Narbe wie eine weißliche Schlange vom Auge bis zum Kinn zu zucken. Gerardo war bestürzt. Doch was für eine Rolle spielte die Narbe in diesem Moment? Die junge Frau schien zu aufgewühlt, um sich in zusammenhängenden Sätzen auszudrücken.
»Das habe ich allen erzählt, auch Remigio«, fuhr Fiamma fort. So zusammengekauert, die Hände auf den Knien gefaltet, wirkte sie fast wie ein kleines Mädchen. »Ich musste es vergessen.«
Die junge Frau schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht fortfahren, dann drückte sie sich wieder das Taschentuch vor den Mund. Sie schien in Tränen ausbrechen zu wollen, doch sie konnte nicht weinen. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem dünnen Gewand.
»Madonna, ich bitte Euch, beruhigt Euch!«, sagte Gerardo. Seinem Gefühl folgend beugte er sich zu ihr hinüber und nahm sie in den Arm.
Fiamma stieß einen Schrei aus, als hätte jemand sie gebissen. Sie wich zurück und steckte eine Hand in den Gürtel, den sie um die Taille trug, während Gerardo sie erschrocken beobachtete und schon glaubte, sie wolle einen Dolch hervorziehen. Stattdessen holte die Frau einen bestickten kleinen Beutel hervor, der drei Dinge enthielt: ein Blatt Hadernpapier, einen Bogen Pergament und eine Art Heft, das kleinste, das Gerardo je gesehen hatte. Sie wollte es ihm erst in die Hand drücken, doch dann entschied sie sich anders und legte alles auf den schmutzstarrenden Boden zwischen sie beide.
»Das erste Blatt ist ein Brief für Euch«, sagte sie. »Das Heft ist mein Tagebuch aus längst vergangener Zeit, und das Pergament ist nutzlos, aber ich weiß, dass Ihr danach gesucht habt. Lest bitte den Brief und das Tagebuch. Ich möchte, dass Ihr mich versteht und mir vielleicht sogar verzeiht.«
Dann rief sie die Wachen, um sich die Tür öffnen zu lassen, nahm den Korb mit dem Geschirr und verließ sichtlich aufgewühlt und ohne ein Wort des Abschieds die Zelle. Sie wandte sich nicht einmal mehr um.
Gerardo war wieder allein. All der Trost, dass er endlich etwas gegessen und getrunken hatte, war dahin, und er fühlte ein schweres Gewicht auf seinem Magen lasten. Er nahm den Brief, der sehr kurz war. Als er ihn gerade zu Ende gelesen hatte, hörte er wieder das Geräusch von Schritten auf dem Gang. Hastig befeuchtete er die Finger mit Speichel, löschte die Lampe und versteckte alles an dem einzig möglichen Platz: unter dem dreckigen Stroh.
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