»Komm von selbst heraus, ohne dass wir dich holen müssen«, sagte einer der Wachen, als er den Riegel zurückschob. »Der Inquisitor erwartet dich.«
Gerardo kroch auf allen vieren aus der Zelle und richtete sich langsam auf. Die beiden ließen ihn dieses Mal zwischen sich laufen, ohne ihn mit Gewalt fortzuschleifen.
Hugues de Narbonne starrte mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit und machte sich allmählich Sorgen. Als er wieder erwacht war, hatte er sich an alles erinnert, wenn auch etwas verworren, als hätte er es nur geträumt: Gerardo hatte ihn nach Hause begleitet, dann hatte er ihn allein gelassen und war mit dem Arzt zurückgekehrt. Hugues erinnerte sich an schreckliche Kopfschmerzen und ein merkwürdiges Gefühl, wie von Luft im Gehirn. Der Arzt musste ihm den Schädel aufgebohrt haben und dabei war er sicher ohnmächtig geworden.
Die Operation war offenbar geglückt, da er jetzt wieder bei klarem Verstand war, auch wenn er immer noch ständig stechende Kopfschmerzen hatte. Aber warum hatten sie ihn nicht losgebunden, als sie das Haus verließen? War es möglich, dass sie hinter sein Geheimnis gekommen waren?
Hugues war im Geiste jeden Winkel des Hauses auf Beweise durchgegangen, die Gerardo und Mondino gefunden haben konnten, aber er war überzeugt, dass es keine gab. Überhaupt nichts. Sämtliche Bücher, Dokumente und Gegenstände, die ihn hätten verraten können, waren sicher in Toledo versteckt, wohin er umgezogen war, nachdem er die Komturei der Tempelritter in Tortosa verlassen hatte.
Leider hatte er in der Zwischenzeit einem menschlichen Bedürfnis nachgeben müssen, und der Gestank seines eigenen Kots widerte ihn an.
Dem schwächeren Licht nach, das durch die geschlossenen Fenster hereinfiel, musste es bereits Nachmittag sein. Warum kam niemand? Wollten sie ihn hier etwa an Hunger und Durst sterben lassen? Nein, das ergab keinen Sinn. Sie hatten keinen Grund, ihn umzubringen - und wäre dem doch so, hätten sie längst kurzen Prozess mit ihm gemacht und bestimmt keine Zeit damit vergeudet, ihn am Kopf zu operieren. Nein, offensichtlich hatten sie vor zurückzukehren, aber es musste ihnen etwas dazwischengekommen sein.
Er versuchte, an den Seilen zu ziehen, mit denen er an die vier Bettpfosten gefesselt war; es war jedoch nichts zu machen, die Knoten waren genau gebunden. Auch der Knebel war so sorgfältig an seinem Kopf befestigt, dass er sich bei Hugues’ Versuch, sich davon zu befreien, noch tiefer in seinen Mund geschoben hatte. Hugues konnte nur ein leises Winseln hervorbringen, das durch die geschlossenen Fensterläden draußen wohl kaum zu hören war.
Außerdem wurden die Kopfschmerzen unerträglich, sobald er sich bewegte oder zu schreien versuchte.
Erschöpft ließ er sich gegen das Betthaupt sinken. Er versuchte zu schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen, aber in dieser Haltung war das fast unmöglich. Zu dem ständigen Pochen im Kopf gesellten sich Schmerzen an den Handgelenken, den Knöcheln und den Schultern. Sobald sein Kopf nach vorn auf die Brust sank, wachte er auf, fiel dann wieder in einen leichten, unruhigen Schlaf und erwachte von neuem.
In einem dieser Momente, als er halbwach vor sich hin dämmerte, glaubte er, ein Geräusch zu hören. Auf einen Schlag war er hellwach. All seine Sinne spannten sich an.
Noch ein Geräusch. Eine Tür, die sich schloss.
Jemand hatte das Haus betreten. Gerardo oder Mondino oder vielleicht alle beide. Auf diesen Moment hatte Hugues gewartet, aber es war noch zu früh, um zu erkennen zu geben, dass er wach war. Als Erstes musste er die beiden dazu bringen, ihn loszubinden. Wenn sie sahen, dass er noch schlief, würden sie vielleicht die Knoten lösen, zumindest hoffte er das. Und solange er nicht wusste, was sie vorhatten, würde er vorgeben, bewusstlos zu sein. Als Hugues Schritte hörte, schloss er die Augen und ließ den Kopf nach vorn auf die Brust sinken.
»Guten Tag, Herr Ritter«, sagte eine Frauenstimme.
Überrascht vergaß Hugues seine Vorsätze und öffnete schlagartig die Augen. Vor ihm stand Fiamma, die Tochter des Bankiers, mit einer Kerze in der einen und einer Stofftasche in der anderen Hand. Die beiden hatten sie geschickt, damit sie ihm half. Hugues de Narbonne fühlte Erleichterung in sich aufsteigen.
»Als ich hörte, dass Ihr verletzt seid, bin ich so schnell wie möglich gekommen«, sagte die junge Frau. »Zum Glück seid Ihr noch am Leben.«
Es war sehr freundlich von ihr, sich um ihn zu sorgen. Als er sie so betrachtete, hatte Hugues den Eindruck, dass sie ihn an jemanden erinnerte. Vielleicht hatte er ihre Mutter in Tortosa kennen gelernt - im Königreich von Aragon hatte er zahllose galante Abenteuer erlebt. Obwohl er sich an eine so schöne Frau, wie sie Fiammas Mutter gewesen sein musste, sicher erinnert hätte.
Die junge Frau zündete mit der Flamme eine zweite Kerze an, die in einer Tonschale auf einer Truhe stand. Dann ließ sie ein paar Tropfen Wachs auf das Holz tropfen und drückte ihre Kerze dort neben der anderen fest. Schließlich schob sie die Truhe neben das Bett.
»So kann ich besser sehen«, erklärte sie. »Ich möchte nicht danebenschneiden.«
Als er in dem helleren Licht die Kotflecken auf der Matratze sah, schämte sich Hugues auf einmal. Das war sicher nicht die beste Situation für die Begegnung mit einer jungen Frau. Sobald sie ihn befreit hatte, würde er ein Fenster öffnen, um den Gestank hinauszulassen, und dann würde er sich waschen gehen.
Fiamma nahm ein Messer aus der Stofftasche und näherte sich ihm. Hugues war etwas verwirrt, als er sah, dass sie es auf seine Brust gerichtet hielt und sich nicht den Seilen zuwandte, die seine Handgelenke fesselten, doch als sie begann, sein Gewand zu zerschneiden, entspannte er sich. Natürlich, sie wollte nicht diese blut- und kotverschmierten Kleider berühren. Sie schnitt sie lieber auf und ließ sie auf das Bett fallen. So würde sie ihn zwar nackt sehen, aber wenn es ihr nichts ausmachte, hatte Hugues nichts dagegen. Trotz seines Alters war sein Körper immer noch fest und muskulös, und nichts, dessen er sich schämen musste. Zu schade, dass er das Bett verschmutzt und immer noch diese schrecklichen Kopfschmerzen hatte. Sonst hätte er sie sofort an sich gezogen, sobald sie ihn losgebunden hatte. Aber das konnte er ja immer noch tun, sobald er sich gewaschen und gestärkt hatte, dachte er mit dem Anflug eines Lächelns.
Fiamma legte seinen kräftigen Oberkörper frei, den ein dichter blonder Pelz bedeckte, in dem nur ein paar wenige weiße Haare zu finden waren. Dann fuhr sie mit dem Messer weiter nach unten und schnitt das ganze Gewand auseinander. Nur die Beinlinge ließ sie unberührt. Sie war wirklich eine Schönheit mit diesen seidigen Haaren, dem intensiven Blick und den vollen Brüsten, die sich unter der weißen Tunika abzeichneten. Selbst die Narbe, die ihr Gesicht verunstaltete, konnte ihre Schönheit nicht mindern.
Die junge Frau entfernte sich von ihm und leerte den Inhalt der Stofftasche auf der Truhe aus. Sie holte verschiedene Metallgegenstände hervor, die auf der Holzplatte klirrten. Warum schnitt sie nicht endlich die Fesseln an seinen Handgelenken durch? Hugues versuchte zu sprechen, aber der Knebel verwandelte seine Worte in unverständliches Jammern.
Fiamma wandte sich ihm zu und starrte ihm lange wortlos in die Augen. Dann sagte sie: »Die anderen musste ich erst niederschlagen und dann mit einem Lähmungstrank bewegungsunfähig machen. Ihr seid freundlicherweise bereits geknebelt und gefesselt.«
Da endlich begriff Hugues. Mit dieser Klarheit des Geistes, die oft dem Tode vorausgeht, kam ihm auf einmal wieder eine tief verschüttete Erinnerung an ein entstelltes Mädchen in den Sinn. Er hatte sie bislang nicht wiedererkannt, weil er sie für tot gehalten hatte und weil die Frau, die vor ihm stand, nicht mehr das zierliche kleine Mädchen von damals war. Nun wusste er: Sie hatte Angelo da Piczano und Wilhelm von Trier getötet. Und jetzt war er an der Reihe.
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